Flexionen des Alltags

Wahrsprechen und Wirklichkeit verändern

Von
Eva Seck

Die Eva-Seck-Kolumne

Im Bus sitze ich zwei Mädchen im Primarschulalter und ihrer Mutter gegenüber. Die drei sind augenscheinlich ausgerüstet für einen Tag im Schwimmbad, die Hüte sitzen und die Sonnencreme duftet. Der Bus ist glücklicherweise klimatisiert; draussen ein weiterer Hitzetag. Wir fahren über den Rhein, der Bus bremst ab, um langsam eine Baustelle zu umfahren. Auf der Brücke wird der Strassenbelag erneuert. Der schwarze Asphalt dampft. Männer in orangefarbenen Helmen stehen daneben. Da dreht sich das ältere Mädchen zu seiner Mutter um und meint: «Die Bauarbeiter tun mir leid, wie sie jetzt in dieser Hitze arbeiten müssen.» Ich blicke von meinem Telefon auf. Genau das gleiche hatte ich vorhin auch gedacht. Die Mutter scheint sie aber nicht gehört zu haben, seltsam, denke ich, denn sie hat laut und deutlich gesprochen. Nach einigen Sekunden fragt die Mutter hörbar irritiert: «Was?» Und das Mädchen wiederholt den Satz. Ich bin gespannt. Wird sie ihr beipflichten und den beiden das Recht auf Gesundheit am Arbeitsplatz erklären? Oder, dass Menschen, die draussen körperlich schwer arbeiten, neben Älteren, Kindern und wohnungslosen Menschen zu den vulnerabelsten Gruppen bei Hitzeperioden zählen? Aber die Mutter ignoriert die Aussage der Tochter erneut. Ist sie überfordert über die reflektierte und emphatische Beobachtung des Kindes? Denkt sie schon ans Aussteigen an der nächsten Station und ob sie die Taucherbrille eingepackt hat? Findet sie die Bemerkung irgendwie weird? Ich hoffe, das Mädchen traut sich weiterhin, Wahrheiten auszusprechen, auch wenn diese manchmal auf taube Ohren stossen.

Eva Seck (*1985 in Rheinfelden) schreibt Lyrik, Prosa und essayistische Texte. Ihr letzter Gedichtband «versickerungen» erschien 2022 im Verlag «die brotsuppe» in Biel. Sie lebt mit ihrer Familie in Basel.