Pascal Naters Tagebuch aus London
Von all den kuriosen kulturellen Betätigungen, die ich meinen Bekannten schon erklären musste, ist dieser «Atelieraufenthalt» wohl eine der erklärungsbedürftigsten. «Toll, gratuliere! Aber was genau machst Du denn da in diesem Atelier?» Früher fanden ja Künstlerpersonen ihre besten Arbeitsplätze meist am Hof eines spendablen Fürsten und mussten dafür sein Hohelied singen, erkläre ich dann meist. Ein wenig in dieser Tradition steht die Idee des Fördergefässes des «Atelieraufenthaltes» ja vielleicht schon. Das Aargauer Kuratorium hat seit langer Zeit ein Apartment in einem Künstlerhaus im Osten Londons und stellt das für jeweils drei bis sechs Monate Kulturschaffenden mit Bezug zum Aargau zur Verfügung. Es fördert damit internationalen Austausch und ermöglicht schreibenden, malenden oder komponierenden Menschen einen Freiraum, um fernab von ihrem sonstigen Umfeld zu wirken. Mit einem Aufenthalt am Fürstenhof ist dieser Atelieraufenthalt nicht zu vergleichen, die 1.5-Zimmer-Wohnung in einer ehemaligen Feuerwehrstation in Tower Hamlets ist fern von jeglichem Prunk. Ich schaue vom vierten Stock nicht auf einen Rosengarten, sondern auf die Logistikbasis der Müllabfuhr und das Verteilzentrum der DPD. Dafür verlangt umgekehrt im freiheitsliebenden Aargau auch niemand von mir, ein Hohelied auf ihn zu singen. Das habe ich mir schon selbst eingebrockt. Ich beschäftige mich nämlich während meiner Zeit hier völlig freiwillig mit dem eidgenössischsten aller Hohelieder: mit dem Schweizerpsalm «Trittst im Morgenrot daher», einem stolzen Aargauer Produkt. Ich recherchiere in historischen Schriften des Bundesrates, mache Tonschnitt von Interviews, schreibe Texte und komponiere Lieder für eine Podcastserie über die schwierige Liebesbeziehung der Schweiz zu ihrer Nationalhymne und für weitere künstlerische Projekte. Seit sechs Wochen halte ich mich nun in diesem Atelier auf. Gerade zu Beginn war ich auch oft draussen im britischen Sommer und bin mit dem Fahrrad den schönen Kanälen entlanggefahren. Ich geniesse die Zeit und tue, wofür ich sonst im Alltag niemals Zeit finden würde: ich höre stundenlang englischsprachige Podcasts an und staune über deren Erzählkraft. Ich schaue in einem der unzähligen prekären Kleinsttheater abgefahrene Theaterstücke an oder besuche ohne Zeitdruck Museen und Ausstellungen. Ich geniesse das Morgenrot über der Skyline von East London. Und das Schönste daran ist: Ich tue dies stets mit dem guten Gefühl, dass dieser kulturelle Müssiggang ganz im Sinne meines spendablen Fürsten ist. Letzte Woche habe ich mich sogar dabei beobachtet, dass ich beim Spazieren vorbei am Hyde Park Corner leise den Aargauer Marsch vor mir her pfiff.
ZUR PERSON
Pascal Nater (*1984) ist in Winterthur aufgewachsen und lebt seit elf Jahren im Kanton Aargau. Er betätigt sich als Podcastautor («Die Giftmörderin von Suhr»), Kabarettist und Theatermusiker und arbeitet von Juli bis Dezember im Atelier des Aargauer Kuratoriums in London.