Flexionen des Alltags

Verkehrsart des Gehens

Bislang konnte im Kanton Aargau der (notabene von der Stimmbevölkerung gewählte) Gemeinderat bestimmen, ob in der eigenen Gemeinde eine Hauptstrasse zu einer Tempo 30 Zone umgewandelt wird. Einzig wenn grössere Investitionen nötig waren, wurde die Stimmbevölkerung miteinbezogen. So weit, so logisch. Im Juni dieses Jahres hat das Aargauer Kantonsparlament äusserst knapp entschieden, das Gesetz zu ändern und bei jedem Entscheid des Gemeinderats, eine Strasse zur Tempo-30-Strasse umzuwidmen, die Stimmbevölkerung darüber abstimmen zu lassen. Natürlich ist die Hoffnung der knappen Mehrheit des Kantonparlaments, dass so möglichst alle Vorhaben einer Temporeduktion auf Hauptstrassen in Dörfern und Kleinstädten verhindert werden. Der deutsche Spaziergangsforscher und Landschaftschaftsplaner Bertram Weisshaar (super Name, super Beruf imho) erklärt, dass mehr Wege in einer Stadt zu Fuss absolviert werden als mit jedem anderen Verkehrsmittel. In Fachsprache: Mit der Verkehrsart des Gehens. Wenn man sich so umschaut, hat man aber nicht den Eindruck, dass die Strassen für diese Verkehrsart, die tagtäglich am meisten genutzt wird, gebaut sind. Theoretisch könnte der Kanton Aargau also ungefähr 680 830 (Anzahl Einwohner*innen) Stimmen für Tempo 30 erhalten, weil jede einzelne Person jeden Tag einige Schritte zu Fuss geht. Nachdem in Finnlands Hauptstadt Helsinki vor einem Jahr mehr als die Hälfte der Strassen zu Tempo-30-Zonen ausgebaut wurden, ist übrigens kein einziger Mensch mehr durch einen Verkehrsunfall gestorben und die Anzahl der Verletzten ging drastisch zurück.

Eva Seck (*1985 in Rheinfelden) schreibt Lyrik, Prosa und essayistische Texte. Ihr letzter Gedichtband «versick-erungen» erschien 2022 im Verlag «die brotsuppe» in Biel. Sie lebt mit ihrer Familie in Basel.