Hält der Herbst im Kulturkanton Aargau Einzug, stecken wir für einmal alle gemeinsam unter einer Decke. Romantisch verbunden. Die Aare von Westen, die Limmat von Osten, die Reuss von Süden ziehen Nebel über unsere Köpfe, und es bleibt nichts anderes übrig, als an Konzerte zu gehen, ins Theater, ins Kino und uns in verschiedenen Bars aufzuwärmen. Oder im Fitnessstudio. Die Gyms und Muckibuden sind ja derzeit gerade daran, den Trinkhallen den Rang als relevanten Raum des pluralistisch-zivilgesellschaftlichen Austauschs abzulaufen. An der Pressbank kommen heute die Schichten und Milieus zusammen – und sich näher. Wie sich dabei aber der Meinungsaustausch inhaltlich von Proteingetränken auf politische Themen verlagern soll, ist mir nicht ganz klar. Eine Einstiegsfrage an den Hanteln könnte etwa sein: Wieviel stemmst du gerade? Oder auf dem Laufband: Wie liesse es sich ausbrechen aus dem Hamsterrad?
Falscher Stolz mag im Fitnessstudio manchmal funktionieren (mehr Gewicht, schnelleres Fliessband), hilft aber bei der Lösung von sozialen Herausforderungen natürlich nichts. Menschen werden nicht fitter, wenn sie mehr Stress erfahren oder mehr Druck aushalten müssen. Eher umgekehrt. Und auch im Sportstudio gilt, je länger wir ein Fitness-Abo besitzen, desto älter werden wir geworden sein.
Die zweite Lektion also, die zuverlässig jedes Jahr im Herbst repetiert wird, ist – Achtung, unmittelbare Melancholie – die ewige Symphonie des grossen Niedergangs. Ist der Nebel die Decke, ist sie das Bett, auf dem wir liegen. Aber: Hier der Trost, wir sind nicht allein. Das Älterwerden ist gemeinsames Schicksal. Insofern hat der Herbst mit seiner Memento-Mori-Ästhetik das Potenzial, die Menschheit zu befrieden. Denn wer will schon seine kostbare Zeit mit irgendwelchen Konflikten vergeuden oder in den Dienst eines gierigen Apparats stellen? Kein Wunder, träumen Diktatoren von ewigem Leben durch Organtransplantationen und biogenetische Hacks. Schliesslich wird ihr Grössenwahn im Hinblick auf die Sterblichkeit absurd.
Sich mit dem Älterwerden auseinanderzusetzen, hat kathartische Wirkung, vor allem, wenn das Thema humoristisch gerahmt wird. Reeto von Gunten, dessen Stimme den meisten aus dem Radio bekannt sein dürfte, hat ein neues Bühnenprogramm entwickelt, eine sogenannte «Geronto Science Fiction». Gut altern zu können, hat bei Von Gunten mit Akzeptanz und Loslassen zu tun, es ist eine heldenhafte Leistung, für die wir uns ruhig belohnen dürfen.
Das Alter wird nicht nur auf der politischen Bühne mit Selbstbräuner, Botox und Haartransplantationen kaschiert. Auch die künstlich generierten Bilder, die unseren Alltag durchdringen, zeigen makellose humanoide Wesen, die zwar nicht mehr viel mit uns zu tun haben, aber dennoch auf unser Selbstbild zurückwirken. In einem Interview mit Digitalkuratorin Maren Burghard loten wir die Kehrseiten von KI aus. So viel vorweg: KI-Bilder sind ein Abbild unseres Vorstellungsinventars – es kommen allerhand Stereotypen zum Vorschein.
Maria Galizia-Fischer ist 91 Jahre alt und Jungautorin. Sie hat ihre Memoiren aufgeschrieben und dieses bis in den Vorabend des zweiten Weltkriegs zurückreichende Zeugnis bildet einen schönen Kontrast zur KI-Geschichte. Ob auch wir dereinst ähnlich auf das Heute zurückblicken?