... im Rechteck der Leinwand: Petra Volpe aus Suhr hat mit Filmen wie «Die Göttliche Ordnung» oder jüngst «Heldin» emanzipatives, sozial-kritisches Kino gemacht und dabei ein breites Publikum unterhalten. Nun wird sie mit dem Aargauer Kunstpreis geehrt.
Was macht uns aus, was hält die Schweiz im Innern zusammen? Petra Volpe muss sich diese Frage wieder und wieder gestellt haben. In ihrer Kindheit und Jugend als Seconda in Suhr, vor allem aber heutzutage, wenn sie über ihren Filmstoffen brütet in New York oder Berlin, wohin sie der Enge der Heimat entfloh.
Ihre Geschichten geben keine einfachen Antworten auf diese Frage. Umso inspirierender sind sie. Sicher scheint: Wir sind ein Land der Ordnung – und ihrer Hüterinnen und Hüter, oft in übersteigerter Form. Es erstaunt nicht, dass Ordnung und deren Feind, die Erschütterung, ein Leitmotiv in Petra Volpes Werk sind.
Augenzwinkernd spiegelt das schon der Titel des Spielfilms, mit dem sie ins Bewusstsein der Massen aufstieg: «Die Göttliche Ordnung». Er dreht sich rund um die Geburt des Frauenstimmrechts, die Petra Volpes eigener Geburt um ein Jahr zuvorkam.
Ende der Sechziger-Jahre verliebt sich eine Teenagerin aus einer Aargauer Bäckersfamilie in einen italienischen Gastarbeiter. Wir sind hier nicht im Film, sondern im wahren Leben. Das Paar zeugt eine Tochter namens Petra. Ob das ein «Provinzskandal» war, wie die «EMMA» 2017 in einem Porträt über Petra Volpe schrieb? Das kann ich nicht beurteilen. Sicher ist: Der Akt ihrer Eltern in Suhr erweist sich heute als Geschenk ans Filmpublikum.
Persönliche Kindheitserinnerungen prägen womöglich eine Szene in der «Göttlichen Ordnung»: Zwei Damen verziehen das Gesicht, als sie in einem Kaff am sehr starken Kafi nippen, also an einem Espresso. Es dürfte ihr erster sein. Soeben hat eine Italienerin die Dorfbeiz übernommen. Womit wir wieder mitten im Film sind, dieser Komödie um einstige Kleingeistigkeit, die natürlich auch die von heute spiegelt. Das Werk wurde zum nationalen Ereignis: Man sprach darüber. Das schaffen Schweizer Filme nur noch selten. Auch, weil es voraussetzt, dass sie überhaupt gesehen werden.
«Die Göttliche Ordnung», ein lokal verwurzelter Stoff, lief in Deutschland, Österreich, Übersee. Hierzulande war sie mit rund 350 000 Eintritten einer der zehn erfolgreichsten Schweizer Kinofilme der letzten Jahrzehnte; nur drei Hollywood-Blockbuster zogen in jenem Jahr mehr Publikum an. Besucherzahlen sind nicht alles, und natürlich ist ohne hohe Besucherzahlen auch nicht alles nichts. Aber Hand aufs Herz: Wofür werden Filme gemacht, wenn nicht dafür, gesehen zu werden?
Der Erfolg dieses Werks hat viele Mütter und Gründe. Einer davon ist Petra Volpes rare Fähigkeit, Drama und Witz zu verweben, als Spiegel unseres tragikomischen Lebens. Und die Angst vor der Unterhaltung, im Kultursektor sehr verbreitet, ist ihr fremd. Wenn Kino eine Form von Eskapismus bietet, hat das mit Oberflächlichkeit nichts zu tun.
Und dieser Film ist sogar unverschämt unterhaltsam, ohne seinen Witz in plumpen Karikaturen zu suchen. Petra Volpe verrät ihre Figuren nicht für eine wohlfeile Pointe, weder Mann noch Frau.
Dafür erwachsen der «Göttlichen Ordnung» aber ganz ordentliche Göttinnen aus Fleisch und Blut. Einige Szenen sind ins kollektive Unterbewusstsein eingegangen. Etwa, wie die Revolutionärinnen mit Handspiegeln ihre Scham betrachten, um sich von der Scham zu befreien. Szenen dieser Art sollen bei staatlichen Filmfördergremien für heisse Köpfe gesorgt haben. Aber Petra Volpe macht kein Schulfernsehen, zum Glück. Die Frau zog ihr Ding durch.
«Ungerechtigkeit bewegt mich», sagte Petra Volpe jüngst in einem Interview. Das geht vielen so. Aber die Wenigsten machen aus dieser Bewegtheit etwas, was andere bewegt und berührt. Diese Fähigkeit hatte sie schon 2013 in ihrem Kinodebüt bewiesen: «Traumland». Der Episodenfilm zeigte, wie virtuos Petra Volpe mit Handlungssträngen, Ebenen und Perspektiven zu jonglieren weiss. Im Mittelpunkt steht die 18-jährige bulgarische Prostituierte Mia auf dem damaligen Zürcher Strassenstrich am Sihlquai. Und als Kulisse dient eine Fassade bürgerlicher Ordnung, hinter der ein Chaos aus Halb- und Unwahrheiten brodelt.
Petra Volpe sagte einmal, sie könne gar nicht anders, als eine feministische Filmemacherin zu sein. Ihr Herz schlägt, ohne der Schwarz-Weiss-Malerei zu verfallen, für die Rechte und die Stärken der Frau. Und sie weiss die Stärken ihrer Schauspielerinnen zur Entfaltung zu bringen. So entstehen Frauenfiguren, die bleiben: Nora, Mia – und Floria, die Pflegefachfrau in «Heldin». Diesem Spielfilm gelingt zurzeit die Quadratur des Kreises im Rechteck der Kinoleinwand Eine gesellschaftliche Botschaft von hoher Dringlichkeit wird packend, uneitel und doch prägnant inszeniert.
Semidokumentarisch tauchen wir in eine Spätschicht von Floria ein – sie heisst fast wie der Schutzpatron der Feuerwehr. Und ihre humanistische Brandbekämpfung, eingefangen von der Kamerafrau Judith Kaufmann, macht uns selbst atemlos. Aufrecht, fast bis zuletzt, verteidigt Floria im Chaos und Dauerstress die fürsorgliche Haltung zugunsten der Kranken.
Erneut führt Petra Volpe systemische Missstände anhand des Individuums vor Augen, ohne den Mahnfinger zu erheben (höchstens ganz am Ende im Abspann). Das ist ein Film von tiefer Menschlichkeit, ohne davon zu triefen. Auch dank sicherem Gespür für nicht zu aufdringliche Leitmotive, etwa die Hände. Und dass auch hier die Milieustudie glaubwürdig wirkt, ist ein Beleg für Petra Volpes Hingabe an die Recherche. Sie arbeitet sich jahrelang in Materien ein, mit journalistischer Akribie.
Aber will man so einen realitätsnahen Spitalalltag überhaupt sehen? Auch hier sprechen die Zahlen eine klare Sprache: Über 175’000 Eintritte allein in der Schweiz – bis jetzt! Das ist famos, gerade für einen Film mit diesem künstlerischen Anspruch.
Petra Volpe ist eine Filmemacherin im ursprünglichen Sinn: Sie dreht nicht nur, sie schreibt auch. Oft wird über die Drehbuchmisere im Land geklagt, zu recht, wie ich glaube. Petra Volpe tritt den Gegenbeweis an. Und ihre Signatur ist in Filmen auch dann unverkennbar, wenn sie «nur» schreibt. So wie vor zehn Jahren in «Heidi» unter der Regie von Alain Gsponer.
Dem Kaff ihrer Kindheit, wie sie es selbst schon nannte, ist Petra Volpe allerdings, fast wie Heidi, entkommen – nach New York. Umso mehr ist zu fürchten, das Filmland Amerika könnte sie vereinnahmen. Tatsächlich entsteht gerade ihr erstes englischsprachiges Werk, ein von wahren Gegebenheiten inspirierter Gefängnisfilm. Wir gönnen ihr den Ruf der weiten Welt. Gleichzeitig hoffen wir, sie möge sich nicht vom Schweizer Schaffen abwenden. Es braucht sie sehr, ihren Esprit, ihren Humor. Und auch die List, mit der sie uns auf neue Fährten führt.
Auf die Frage, weshalb wir Filme und Geschichten brauchen, entgegnet Petra Volpe im Magazin «Zeitlupe»: «Wozu braucht der Mensch Brot? Ich mache eigentlich das Gleiche wie mein Grossvater als Bäckermeister. Das Teilen von Geschichten erfüllt für mich ebenso ein menschliches Grundbedürfnis wie das Herstellen von Lebensmitteln.» Und weiter: «Ist es nicht toll, im Kinosaal gleichzeitig zu weinen wie die fremde Person, die daneben sitzt? Gut möglich, dass sie mich zuvor noch mit ihrem Popcorn genervt hat. Indem uns dasselbe rührt, realisieren wir, dass uns mehr verbindet als trennt. Das ist die Kraft des Kinos.»
Dem habe ich popcorngeschädigter Kinofan nichts mehr hinzuzufügen, ausser: Rühren Sie uns weiter, liebe Petra Volpe!
Urs Bühler ist Journalist bei der NZZ am Sonntag. Dieser Text ist eine gekürzte Version seiner Laudatio auf Petra Volpe.
Petra Volpe
Nadja Klier
Aargauer Kunstpreis für Petra Volpe
Die Schweizer Regisseurin und Drehbuchautorin Petra Volpe (*1970 in Suhr) lebt in New York und Berlin. Sie absolvierte die F+F Schule für Kunst und Design in Zürich und studierte an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf in Potsdam. Sie wurde mit dem Deutschen Fernsehfilmpreis (2010) für «Frühling im Herbst» ausgezeichnet und war mit «Traumland» (2013) mehrfach für den Schweizer Filmpreis nominiert. «Die göttliche Ordnung» war im Jahr seiner Erscheinung der erfolgreichste Kinofilm der Schweiz. Derzeit läuft der Film «Heldin» im Kino. Der Aargauer Kunstpreis ist mit 40 000 Franken dotiert.