Pionierin in der bildenden Kunst

Bild und Text
Tania Lienhard

Gillian White und ihre Tochter Johanna Siegenthaler bereiten zwei Ausstellungen zum Lebenswerk Gillians vor.

Unterwegs mit Gillian White

Am Telefon erfahre ich von Johanna Siegenthaler, dass ihre Mutter, die Künstlerin Gillian White, die ich gern zu einem Gespräch treffen möchte, in einem Pflegeheim in Döttingen lebt, ich sie aber gern besuchen darf. Ihre Freude über das Interesse an ihrer Mutter ist ihr anzuhören. Sie sei gerade dabei, Gillians Lebenswerk für zwei Ausstellungen zu sichten, zu sortieren und zu ordnen. Gerne würde sie mich zum Termin ins Pflegeheim begleiten. Also treffen wir uns am nächsten Tag in Döttingen. Als wir die Tür zu Gillians Zimmer öffnen, sitzt da eine freundlich lächelnde ältere Frau mit wachem Blick und warmer Ausstrahlung.

Wenn sie, die Engländerin, die seit fast 60 Jahren in der Schweiz lebt, zu sprechen beginnt, tut sie das mit einem charmanten Akzent. Sie nimmt mich sofort für sich ein, erzählt aus ihrem Leben und ich tauche ins England der 50er-Jahre ein. «Es war eine grosse Ehre für mich, mit 16 Jahren die St. Martin’s School of Art besuchen zu dürfen», erinnert sie sich. Sie habe bei Sir Anthony Caro und Elisabeth Frink, zwei der berühmtesten englischen Bildhauer*innen, studiert. In London seien professionelle Künstlerinnen akzeptiert gewesen, schon damals. Zwar habe sich ihr Vater gegen ihren Wunsch ausgesprochen, Künstlerin zu werden. Aber er habe sie auch nicht daran gehindert. Ihre Mutter habe sie moralisch immer gestärkt. Dass Gillian von Anfang an ihre Ausbildung selbst bezahlen musste und keine finanzielle Unterstützung von zu Hause erhielt, bestätigt sie mir erst auf meine Nachfrage hin. Hier wird zum ersten Mal für mich deutlich, dass Gillian ihren Fokus auf das Positive legt und die unglaublichen Herausforderungen, die ihr als freischaffende Künstlerin zeitlebens begegneten, hintanstellt. Ich nehme sie als sehr bescheiden wahr, aber auch als jemand, die weiss, was sie alles erreicht und geschafft hat. Sie war auf Gelegenheitsjobs angewiesen, pflegte unter anderem den Garten ihres Professors. Auf meine Frage, ob ich sie als Kämpferin bezeichnen dürfe, antwortet sie mit einem lauten, lachenden «Ja!». Zwar schaffte Gillian schon bald den Durchbruch in der Schweiz. Aber ihr Leben an der Seite ihres Ehemannes Albert Siegenthaler, den sie in Paris während ihrer Zeit an der École nationale supérieure des beaux-arts kennengelernt hatte und mit dem sie in die Schweiz einwanderte, blieb ein stetiges finanzielles «in der Schwebe Sein». Denn auch Albert war Künstler. «Wir hatten nie ein geregeltes Einkommen, das brachte einen Unsicherheitsfaktor mit in die Familie», sagt Gillian White. Die beiden hatten zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Als Albert krank wurde und schliesslich starb, lag die ganze Verantwortung auf Gillian. Doch sie war erfolgreich, konnte schliesslich ganz allein mit ihren Werken den Lebensunterhalt der Familie sichern – und mit ihrem eigenen Gemüsegarten. An diese schwierigen Zeiten denkend, fokussiert sie erneut aufs Positive, ruft lachend: «Ich habe es geschafft! Wir konnten von meinen Skulpturen leben.» Hauptsächlich sicherten Aufträge, die mit Kunst am Bau oder im öffentlichen Raum zu tun hatten, ihr Einkommen. «Wir hatten auch ein wenig Glück, dass damals so viele Projekte ausgeschrieben waren», sagt sie bescheiden. Doch ich denke: Sie war es, die schliesslich den Zuspruch für die Aufträge erhielt. Und nicht jemand anderes.

Gillian White war eine Pionierin in der Schweiz. Vor ihr hatte es keine Frau gegeben, die grosse Skulpturen für den öffentlichen Raum schuf. Wie war es, in einer Familie aufzuwachsen, die sich ganz der Kunst verschrieb? «Wir hatten immer viel Material und viele Werkzeuge zu Hause, das war toll. Und ich erinnere mich daran, dass wir jedes Wochenende in Museen verbrachten», lacht Johanna Siegenthaler. «Ich unterhielt mich immer liebend gern mit meiner Mutter über ihre Werke und darüber, was sie bedeuteten und woher die Inspiration dazu kam.» Auch sie sei künstlerisch begabt, erzählt Johanna. Sie habe sich aber entschieden, die Musik als ihren Weg zu wählen und nicht Bildhauerei oder Malerei wie ihre Mutter – und auch ihr Vater. «Dies, obwohl ich mich eher als visuellen denn als akustischen Menschen bezeichnen würde. Aber in die Fussstapfen meiner Eltern zu treten, erschien mir als zu schwierig. Ihr Schatten ist riesig und ich wollte etwas Eigenes schaffen.» Aber auch die Musikalität komme nicht von ungefähr, wie sie erzählt: «Gillian besuchte die Ballettschule in Camberley, bis ihre Füsse daran kaputtgingen und sie sich auf die Kunst fokussieren konnte.»

Johanna Siegenthaler beschäftigt sich schon lange mit dem Werk ihrer Mutter, da ist es nur logisch, dass sie auch bei den Ausstellungen über Gillian White in Wettingen und Lenzburg (siehe Kasten) involviert ist – zusammen mit Kurator Marc Seidel. «Es ist sehr emotional für mich, die Arbeiten zu sichten. Und ich spüre auch eine gewisse Verantwortung Gillian gegenüber. Was soll mit den Werken geschehen, auch nach den Ausstellungen?» Ihre Mutter sei fasziniert von Wasser und Wolken. In vielen Kunstwerken – den grossen wie auch den kleinen – würden sich diese Themen wiederfinden, so Siegenthaler. «Und sie spielte schon immer gern mit dem Raum, der ihr zur Verfügung stand. Bei ihren Arbeiten war ihr stets wichtig, wie und wo die Skulpturen platziert wurden, die mit der Umgebung in einen Dialog traten. Es musste alles millimetergenau stimmen.» Neben grossen Skulpturen und kleinen Plastiken widmete sich Gillian White auch der Malerei und dem Zeichnen. Bevor ich mich verabschiede, frage ich Gillian, was Kunst für sie eigentlich bedeute. «Sie war mein Weg», sagt sie, ohne zu überlegen.

Ein Werk von vielen im öffentlichen Raum: Die Skulptur «Lichtung» von Gillian White, Kulturweg Baden–Wettingen–Neuenhof. Foto: cc

SKULPTUREN VON GILLIAN WHITE

Das Kunstmuseum Eduard Spörri zeigt die Sonderausstellung «Spiel mit Raum» von Gillian White. Die Retrospektive ist als Partnerausstellung in Kooperation mit dem Ikonenmuseum Schweiz /Museum Burghalde in Lenzburg konzipiert. Skulpturen von Gillian White sind auch im Schlosspark von Bad Zurzach zusehen – und in verschiedenen öffentlichen Räumen im Kanton.

WETTINGEN Museum Eduard Spörri, bis auf Weiteres 
LENZBURG Ikonenmuseum, 1. Dezember bis 1. November 2026
BAD ZURZACH Park Himmelrych, permanent