Flexionen des Alltags

Nachbarschaft

Von
Eva Seck

In letzter Zeit denke ich über Nachbarschaft nach; dem Verhältnis zwischen Personen (ich würde Personen ergänzen mit Dingen), die nahe beieinander leben. Denn gleich nach den obligatorischen Leuten, die mit uns im Haus wohnen, fällt mir der Ahornbaum vor dem Schlafzimmerfenster ein, der im Sommer kühlenden Schatten spendet. Im Scherz meinte ich mal, wenn er gefällt würde, würde ich augenblicklich ausziehen und merkte beim Sprechen, dass ich das komplett ernst meine. Drei Katzen leben in unserer direkten Nachbarschaft, diverse Vögel, ein Hund, Insekten usw. Der Quartierladenbesitzer am Ende der Strasse, ohne den schon manches Abendessen ins Wasser gefallen wäre, weil die entscheidende Zutat fehlte, gehört ebenfalls dazu. Mit dem Velo fuhren wir letztens durch zwei Länder, die direkt an diesen Zipfel der Schweiz grenzen: Frankreich und Deutschland, auch so was wie Nachbarn. Wenn man das Konzept weiterdenkt, leben wir alle in Nachbarschaft von Büschen, Bächen, Bergen, aber auch von Gebäuden und Orten, die mit Bedeutung aufgeladen sind. Nachbar*innenschaft ist eine soziale Tatsache sowie ein räumliches Organisationsprinzip. Im besten Fall hilft man sich, schaut zueinander. In den USA beschützen Menschen ihre Nachbarinnen vor dem Zugriff der Migrationsbehörde ICE, die illegal Menschen einsammelt und in Gefängnisse steckt. Eines wird mir beim Nachdenken klar: Es werden unsere Nachbarn sein, die Leute um uns herum, die sich zwischen uns und das Unrecht stellen werden. Es werden Bäume sein, die die Nächte um das entscheidende Grad herunterkühlen. Die Gelegenheit, sich um das, was uns umgibt, zu kümmern, ist jetzt.

Eva Seck (*1985 in Rheinfelden) schreibt Lyrik, Prosa und essayistische Texte. Ihr letzter Gedichtband «versick-erungen» erschien 2022 im Verlag «die brotsuppe» in Biel. Sie lebt mit ihrer Familie in Basel.