Er ist ein musikalisch-lyrisch-performatives Grossereignis: Jason Beck alias Chilly Gonzales spielt im September im Kurtheater Baden. Eine Annäherung an ein schillerndes Phänomen.
«If you are a fan of my music, you should learn to hate me», sagt Chilly Gonzales in die Kamera. Bereits in der Einstiegssequenz von «Shut up and play the piano», dem Dokumentarfilm über seine Person, steht jener Zweifel zwischen Ironie und Ernst im Raum, den der Künstler wie kaum ein anderer zu bedienen weiss, den er reflexhaft überall verstreut, wo er die Bühne betritt. Eine Mischung aus arrogantem grössenwahnsinnigem Stardom und der systemkritischen Persiflage davon. Immer kurz vor der Eskalation, auch wenn er am Piano in eine ruhige Elegie versunken scheint.
Was ist hier Zufall, was Kalkül, was bloss Spiel und was echte Botschaft? Das sind Fragen, die sich zwangsläufig aufdrängen. Die Ambivalenz zwischen Ernst und Unterhaltung, die Verkehrung des Einen ins Andere, das ist ein postmodernes Muster, das sich durch Gonzales’ mehrere Dekaden und Genres umspannendes Werk zieht. Doppelbödige Harmonien und sinistre Beats, Pianokaskaden und lyrische Rap-Texte gehen bei ihm in einer exzessiven Performativität auf, die sehr an Punk erinnert. Und das ist vielleicht ein erster Angelpunkt im Versuch, das Phänomen Chilly Gonzalez, kurz Gonzo, zu fassen: Die frühen Jahre, in denen er mit der Künstlerin Peaches im Berliner Underground der späten 1990er-Jahre mit Sounds und Formaten experimentierte.
Geboren in Montreal 1972, in eine gut situierte Familie – der Vater gross im Immobiliengeschäft – lernt Jason Beck, wie Chilly bürgerlich heisst, von seinem Grossvater bereits mit drei Jahren Piano zu spielen. Sein vier Jahre älterer Bruder kam auch in den Genuss der frühen Klavierförderung und so entstand zwischen den beiden ein kompetitives kreatives Verhältnis – der Bruder wurde erfolgreicher Komponist für Filmmusik (für Disney) und er, Jason, tat sich mit der feministischen Sängerin und Performancekünstlerin Peaches zusammen. Sie gründeten die Electroclash-Band «The Shit» und verliessen Kanada, um in Berlin in den Katakomben von besetzten Häusern die Sau rauszulassen und um dabei mit den gemeinsamen Performances das Genre überhaupt mitzubegründen. Selbstredend, dass es für Gonzo in dieser künstlerischen Kompromisslosigkeit der Avantgarde schwer war, finanziell über die Runden zu kommen. Also spielte er daneben als Pianist in Restaurants Fahrstuhlmusik.
Gonzo war ein manischer Sound-Tüfftler, der nicht nur für sich in einer Marihuanawolke in einem heruntergekommenen Altbau irrlichternde Harmonien und Disharmonien komponierte. Er suchte für seine Erzeugnisse intensiv nach einem Label. Gemäss Raik Hölzel, Gründer des Plattenlables Kitty-Yo Records, sei Gonzo beinah wöchentlich vorbeigekommen, um seine neu aufgenommenen CDs zu deponieren. Anfänglich hätte es bei ihm nicht klick gemacht, aber irgendwann hätten sie begriffen, «das ist geiler Scheiss, den müssen wir machen.» Gonzos Debüt-Album «Gonzales Über Alles» (2000) wurde zum internationalen Erfolg. Die Mischung aus housigen Melodien, Trip-Hop und Drum n’ Bass Elementen lässt sich auch heute noch ohne Retro-Irritationen hören, die Songs sind alle gut gealtert. Auch die drei weiteren Werke, poppige und extrovertierte Alben und Kollaborationen, unter anderem mit Daft Punk, Feist und Peaches, sorgen für Aufsehen und Renommee.
Und dann kam 2004, eine Zäsur. Er war sich vielleicht selbst zu laut, zu konzeptionell geworden, war zu tief in Peaches’ Welt drin. Gonzales zog sich zurück, mietete sich in Paris eine Wohnung und komponierte. Kein Label, keine Erwartungen. Nur er und sein Piano, zurück zu den Wurzeln gewissermassen. In dieser Zeit entstand das Album «Solo Piano», ohne Gesang, ohne andere Instrumente oder Effekte. Unmanierierte, leichte und zeitlose Stücke. Die Kritiken und das Publikum haben das Werk durchs Band positiv aufgenommen und Gonzo sagte sich: «This is the way!» Nicht mehr um Aufmerksamkeit schreien, sondern etwas mit der Aufmerksamkeit machen. Ein Wendepunkt, er hatte sich stilistisch und musikalisch gefunden.
Auch thematisch hatte er sich fokussiert: Während mit Peaches das Chaos und der Exzess Programm waren, ist es nun eben die Diskrepanz zwischen Ernst und Unterhaltung, die ihn beschäftigt. Gerade die Welt der Klassik, mit ihren traditionsschweren Institutionen und sozialen wie künstlerischen Regeln, bietet Gonzo Reibungsfläche. Der Dünkel dieses elitären Kosmos, darauf hat er es abgesehen. Denn eigentlich sind die Komponist*innen von damals gar nicht so weit weg von den Popkünstler*innen der Gegenwart. Auch Franz Liszt, Mozart, Beethoven hätten alle zu ihrer Zeit einen vollen Eventkalender gehabt, hätten für die Menschen von damals gespielt und vor allem Spass an der Musik gehabt.
Aufgewachsen in der ersten MTV-Generation und mit der strengen klassischen Pianoausbildung des Grossvaters versucht er unablässig, die Domänen zu verschränken, vielleicht miteinander zu versöhnen. In sogenannten Masterclasses erklärt Gonzo, wie genial aktuelle Pop-Songs von Billie Eilish, Taylor Swift, The Weekend und vielen anderen sind. Er dekonstruiert sie am Piano und deckt die zahlreichen Referenzen zur Klassik auf.
Gonzo sitzt mit einer ausgeprägten anti-elitären Haltung am Flügel, meist im Kimono und mit Pantoffeln, zerzaustes Haar und verschwitzt. Institutionenkritik heisst bei ihm, die Spontanität wieder in die Orchesterhallen zu bringen, den Emotionen freien Lauf zu lassen, ein bisschen zu eskalieren: Stagediving und Crowdsurfing durchs Parkett, sich in den offenen Flügel legen. Gewiss, mittlerweile ist Gonzo mit seinen rund 20 Alben, von EDM über Rap zu Chanson, selbst zu einer Pop-Institution geworden: «You should learn to hate me» – das ist eine Pointe, die zwar einleuchtet, aber im Fall von Gonzo schier unmöglich ist.