Gender

Let's Talk Queerness!

Text
Christina Caprez
Fotos
Judith Schönenberger

Max (15): «Es heisst doch immer, Kleidung bestimmt nicht das Geschlecht. Wieso kann ich dann nicht feminin sein und trotzdem ein Mann?»

Auf dem Rücken von LTBGQ-Menschen wird systematisch Politik gemacht, als seien sie die Ursache für die gesellschaftlichen Probleme von heute. Schnell wird vergessen, dass hinter den Polemiken verletzliche Menschen stehen. Die Soziologin Christina Caprez hat für ihr aktuelles Buch mit jungen queeren Menschen gesprochen und erfahren, was sie bewegt.

Lia weiss, seit sie denken kann, dass sie ein Mädchen ist, obschon sie bei der Geburt als Junge registriert wurde. Samira ist überglücklich verliebt, muss ihre Liebe aber vor den Eltern verstecken. Und Corsin fühlt sich in seinem Bergdorf einsam und gründet einen Treffpunkt für queere Jugendliche. Lia, Samira, Corsin und zwölf weitere Kinder und Jugendliche erzählen in meinem Buch «Queer Kids» ihre Geschichte – stellvertretend für die vielen Heranwachsenden, die sich irgendwo auf dem LGBTQIA+-Spektrum verorten.

Jugendliche sind heute informierter und sensibilisierter als noch vor ein paar Jahren, queere Schüler*innen wagen häufiger ein Coming-out. In Umfragen identifizieren sich immer mehr als nicht oder nicht ausschliesslich heterosexuell, in der letzten Zürcher Jugendbefragung gar 26% der weiblichen und 9% der männlichen Jugendlichen in der neunten Klasse. Zugleich ist das Klima in vielen Schulen rau. Homo- und Transfeindlichkeit treten teils sehr gewaltsam zutage. «Schwul» als Schimpfwort ist auf dem Pausenplatz gang und gäbe und Mobbing weitverbreitet. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass queere Jugendliche ein höheres Risiko für Suchterkrankungen, Depressionen und Suizidversuche haben. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, dass Eltern, Lehrpersonen, Schulsozialarbeitende und andere Erwachsene, die mit Jugendlichen zu tun haben, informiert und sensibilisiert sind. Zwar existieren Ratgeberbücher zum Thema. Was fehlt, ist jedoch die Sicht der Kinder und Jugendlichen.

Was bedeutet es, als Teenager hier und heute zu entdecken, dass man nicht den heteronormativen Erwartungen entspricht? «Ich bin lesbisch, und solange wir nicht darüber reden, geht es allen gut», erzählt Aurelia. Und Max räumt ein: «Ich würde gern sagen, dass ich stolz bin. Aber ehrlich gesagt habe ich vor allem Angst, so zu sein.» Luan kann erst nach langem Ringen mit sich sagen: «Heute empfinde ich es als ein sehr schönes Gefühl, schwul zu sein.» Keiner der Jugendlichen ist sich beim Coming-out sicher, dass Erwachsene und Gleichaltrige positiv reagieren werden. Aber für die meisten ist der Schritt mit grosser Erleichterung und neuen Erkenntnissen verbunden. Etwa für die bisexuelle junge Frau, die sich fragt, wieso sich die meisten Menschen eigentlich nur in ein Geschlecht verlieben können.

Das Jugendalter ist für jede Person eine Zeit der Selbstfindung, des Ausprobierens und Verwerfens, bis sie einen Weg findet, der ihr entspricht. Und auch dieser Weg kann ein vorläufiger sein und kann sich im Verlauf des Erwachsenenlebens ändern. Die Aufgabe von Eltern und Lehrpersonen ist es, die Heranwachsenden auf diesem Weg zu begleiten. Was aber, wenn dieser Weg durch Gebiete führt, über die die erwachsene Person kaum etwas weiss, die ihr gar fremd sind? Die Jugendlichen beschreiben es als enorm hilfreich, auf Social Media die eigene sexuelle Orientierung gespiegelt zu sehen oder in einem kleinen Freund*innenkreis andere Namen und Pronomen ausprobieren zu können, um herauszufinden, was sich stimmig anfühlt. Eltern und Lehrpersonen gestehen ihnen diesen Raum jedoch oft nicht zu und reagieren skeptisch, wenn ihnen ein Kind anvertraut, dass es nicht cis (d.h. Geschlechtsidentität stimmt mit dem biologischen Geschlecht überein, Anm. d. Red.) oder nicht hetero ist.

Viele Erwachsene schauen verwundert auf die junge Generation. Sie sind mit der Vorstellung aufgewachsen, jeder Mensch sei entweder Mann oder Frau, und reagieren mit Verunsicherung, wenn sich Jugendliche als non-binär identifizieren und althergebrachte Geschlechterkategorien infrage stellen. Solche Gedanken scheinen manchen Erwachsenen absurd. «So absurd, wie es etwa für Menschen des 18. Jahrhunderts geklungen haben mag, wenn jemand die Gleichberechtigung von Schwarzen Menschen oder Frauen einforderte», schreibt die Jugendpsychiaterin Dagmar Pauli in ihrem lesenswerten Buch «Die anderen Geschlechter». Sie legt den Erwachsenen einen unvoreingenommenen Blick auf die junge Generation nahe: «Wir müssen uns auch der Möglichkeit öffnen, dass hier vielleicht eine völlig neue Denkweise heranreift, der wir uns stellen müssen; ein Wertewandel, der unsere Gesellschaft nachhaltig beeinflussen wird.»

Ad J. Ott von der Pädagogischen Hochschule Bern forscht zur Situation von LGBTQ+-Jugendlichen heute. Eine seiner Erkenntnisse ist: Schon kleine Kinder haben die Abwertung von Menschen, die nicht heterosexuell sind oder nicht den Geschlechternormen entsprechen, verinnerlicht. Queere Kinder und Jugendliche schämen sich oft für ihr Anderssein und geben sich selbst die Schuld dafür. Dies auch, weil das Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt bis heute nicht selbstverständlich und unaufgeregt Teil des Unterrichts ist.

Vor 12 Jahren erschien mein Buch «Familienbande». Darin porträtierte ich verschiedene Konstellationen, von Patchwork- über Regenbogenfamilien bis hin zu Wohngemeinschaften mit Kindern. Damals hiess es, homosexuelle Eltern seien egoistisch, weil sie ihre Kinder Mobbing aussetzten. Auch die Erziehungsfähigkeit schwuler Männer wurde teilweise infrage gestellt. Seither hat sich viel verändert: Andere Familienformen als die heterosexuelle Kleinfamilie sind selbst verständlicher geworden, die Ehe für alle erlaubt es auch gleichgeschlechtlichen Paaren, ein Kind zu adoptieren oder mittels Samenspende zu zeugen. Heute entzündet sich die Kritik mehr am Umgang mit trans Kindern und Jugendlichen und an der geschlechtergerechten Sprache. LGBTQIA-Themen werden polarisiert diskutiert und politisch instrumentalisiert. Zugleich sind queere Lebensentwürfe – zumindest hierzulande – akzeptierter denn je.

Die Begegnungen mit den Jugendlichen waren für mich sehr inspirierend. Wenn ich abends im Bett lag und einzuschlafen versuchte, gingen mir manche Gespräche noch nach. Etwa das mit Christelle, die fragte: «Wie willst du wissen, dass es noch etwas anderes gibt, wenn es dir nicht beigebracht wird?» Ich malte mir eine Welt aus, in der schon kleine Kinder von der ganzen Vielfalt des Lebens erfahren. Eine Welt, in der Erwachsene auf ein Coming-out nicht mit der Frage «Bist du sicher?» reagieren, sondern mit der Antwort: «Ich freue mich für dich, dass du das herausgefunden hast. Ich unterstütze dich, wo auch immer dein Weg dich noch hinführen wird.»

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch «Queer Kids. 15 Porträts» (Limmat Verlag 2024).

Max, 15: «Ich brauche noch Zeit, um herauszufinden, wer ich bin.»

«Als Kind war ich ein sehr stereotypes Mädchen, ich mochte pinke Kleider und Glitzer. Trotzdem fühlte es sich nicht richtig an, zu sagen: Ich bin ein Mädchen. So habe ich begonnen, über mein Geschlecht nachzudenken. Ich habe im Internet viele Geschichten von trans Männern gehört, die sich schon als Kind nur für Jungensachen interessierten. Das war bei mir anders. Frauenkleider und Make-up mag ich immer noch. Aber wenn ich das trage, werde ich noch mehr als Mädchen wahrgenommen. Es heisst doch immer: Die Kleidung bestimmt nicht dein Geschlecht. Wieso kann ich dann nicht feminin sein und trotzdem ein Mann?»

Lou, 16: «Die Community ist für mich sehr wichtig.»

«Im Herbst 2020 spitzte sich die Situation zu. Ich begann, mich immer mehr selber zu hassen, und dachte an Suizid. Ich musste dann notfallmässig in eine Klinik. In dieser Zeit bin ich auf einen queeren Manga gestossen: «Wer bist du zur blauen Stunde?» heisst er. Darin geht es um einen Jungen, der gay ist und psychische Probleme hat. Am Schluss findet er seine Community. Dieser Manga sprach mich sehr an. Mit mir in der Klinik war auch eine non-binäre Person. Da realisierte ich: Hey, es gibt noch mehr als nur Mann oder Frau! Geschlecht ist ein Spektrum. Und dein biologisches Geschlecht bestimmt nicht darüber, wer du bist.»

Corsin, 17: «Die Oberstufe war eine schwierige Zeit für mich.»

«Auf dem Pausenplatz waren Wörter wie «du Schwuler!», «du Schwuchtel!» und «No Homo!» oft zu hören. Vielleicht ist es gar nicht immer negativ gemeint. Aber wenn du selber schwul bist, verunsichert es trotzdem und macht Angst. Sie machten auch Kommentare mir gegenüber: «Gefällt dir der dort drüben?» Schliesslich wusste es die ganze Oberstufe. Die Lehrer*innen guckten nicht so genau hin. Sie dachten vermutlich, das sei ja nur so ein Pubertätsding, das müsse man nicht ernst nehmen. Ich hätte mir gewünscht, dass sie etwas dagegen unternehmen und dass schon in der Primarschule über dieses Thema gesprochen wird.»

Élodie, 17: «Meine Gefühle für dieses Mädchen sind nicht anders, als wenn ich Gefühle für einen Jungen habe.»

«Erwachsene sollten keinem Kind sagen, dass das vielleicht nur eine Phase ist. Das verunsichert nur. Im Leben verändert sich ja vieles. Du kannst zwar deine Sexualität nicht aktiv ändern. Aber sie kann sich im Lauf der Zeit verändern, oder es fühlt sich mal so an und mal so. Ich habe Phasen, in denen mir eher Mädchen auffallen und dann wieder eher Jungs. Viele Leute sagen mir, dass sie das nicht verstehen. Ich finde das einen schwierigen Begriff, «nicht verstehen». Ich meine, in dem Sinn verstehe ich Leute auch nicht, die hetero sind. Wie willst du das verstehen, wenn du es nicht gleich empfindest?»

Charlie, 20: «Ich mag es, wenn sich die Leute kein Bild von mir machen können.»

«Ich bin dankbar für alle Aktivist*innen vor mir. Auch wenn sie ihr Ziel – die Gleichstellung von Mann und Frau – nicht ganz erreicht haben. Meiner Generation geht es um die Gleichstellung von Menschen. Wir wollen direkt den ganzen Weg gehen und fordern die Gleichstellung überall, bei Race, Gender, bei allem. Wir wollen alles dekonstruieren. Ich finde, es muss sich nicht unbedingt gegenseitig ausschliessen. Schlussendlich haben wir alle das gleiche Ziel. Es ist einfach eine andere Vorstellung davon, wie man dorthin kommt.»

Christina Caprez

Zur Person

Die Autorin Christina Caprez (*1977) ist im Aargau aufgewachsen. Sie ist Soziologin und Historikerin und war langjährige Redaktorin bei Radio SRF 2 Kultur. In dem Buch «Queer Kids», aus dem die hier versammelten Texte stammen, porträtiert sie 15 Jugendliche. Das Buch fokussiert auf ihre Perspektive und ihre Erlebniswelt und trägt so zu einer unaufgeregten Diskussion über LGBTQ bei. Caprez plant laufend Lesungen und Gespräche zum Thema, auch im Aargau.

Vom 1. bis 30. Juni findet anlässlich des Pride-Monats eine Ausstellung mit Fotos und Texten aus «Queer Kids» in der Zentralbibliothek Zürich statt.

Anfragen und weitere Informationen: www.queerkids.ch.