Schauspielerin Nathalie Imboden spielt Lili Glarner.
Lili Glarner, eine junge Frau aus Wildegg, wurde 1933 von den Nazis 15 Monate lang inhaftiert. Der Dramaturg Peter-Jakob Kelting hat sich auf ihre Spuren gemacht. Sein Stück «Aus der Zeit» zeichnet Lili Glarners Weg nach: Aus der geordneten Schweiz in das Zentrum welthistorischer Umwälzungen.
Am 21. April 1933, einem Donnerstag, teilt Lili Glarner ihren Eltern in Wildegg zwei folgenschwere Entscheidungen mit: Sie wird ihren Freund Eli Dutilh heiraten, wenn es sein muss, auch ohne ihre Einwilligung. Und sie kündigt ihnen an, dass das junge Liebespaar in die Sowjetunion reisen werde, um die Aufbruchstimmung im sozialistischen Riesenreich selbst mitzuerleben. Alle Bedenken und Einwände von Paul Glarner, einem angesehenen Arzt, und ihrer Mutter Margrith wischt die Tochter beiseite. Sie hat ihren Entschluss gefasst. Die Koffer sind gepackt, die Fahrkarten gekauft. Bereits am nächsten Tag brechen die beiden nach Berlin auf, um dort die erforderlichen Visa zu bekommen. Doch die Abreise nach Moskau verzögert sich.
Das Nächste, was Margrith und Paul Glarner von ihrer Tochter hören, ist Ende Juli 1933 die Nachricht, dass Lili Glarner und ihr Begleiter von der berüchtigten Gestapo festgenommen worden sind.
Was bewegt 1933 eine 25-jährige Frau dazu, die wohlgeordnete Schweiz zu verlassen, um in einen Staat zu reisen, in dem seit der Oktoberrevolution 16 Jahre zuvor kein Stein auf dem anderen geblieben ist? Und die sich stattdessen in einem deutschen Gefängnis wiederfindet?
Lili Glarner, 1908 als ältestes Kind von vier Geschwistern geboren, wächst in einem Haushalt auf, in dem grösster Wert auf Bildung gelegt wird. Der Traum der Sechser-Maturandin und Jahrgangsbesten an der Kantonsschule Aarau ist es, Medizin zu studieren, doch das redet ihr der Vater aus: Als Frau würde sie sich in der Männerdomäne kaum durchsetzen können, so sein Argument. Und ausserdem sei dieser Beruf in der Familientradition dem männlichen Nachkommen, also ihrem jüngeren Bruder Hans, vorbehalten.
Sie beginnt in Frankfurt am Main ein Studium der Innenarchitektur. Das Fach Architektur ist in Deutschland Ende der 20er-Jahre geprägt von den Reformideen des Bauhauses, das die Klassengesellschaft zu überwinden anstrebt und für dieses visionäre Ziel konkrete bauliche Konzepte entwickelt. Lili Glarner kommt mit den Ideen des Marxismus in Berührung und fängt an, sich in diesem Geist zu politisieren.
Lili Glarner in den 1930er-Jahren. zvg
Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz nimmt sie mit Gesinnungsgenoss*innen an der Universität Zürich Kontakt auf, wo sie auch Eli Dutilh kennenlernt, einen niederländischen Kommilitonen, der wie sie seinen Platz im Leben sucht. Die beiden sehen keine Perspektive in der ihrer Auffassung nach verkrusteten und reaktionären Schweiz. Dagegen zeichnen Reiseberichte aus der Sowjetunion wie etwa diejenigen der Basler Frauenrechtlerin Elisabeth Thommen oder der Genfer Abenteurerin Ella Maillard ein nicht unkritisches, aber mit deutlicher Sympathie gezeichnetes Bild einer Gesellschaft im Aufbruch, in der insbesondere die fortgeschrittene Emanzipation der Frau hervorsticht. Lili und Eli beschliessen, in die Sowjetunion auszuwandern.
Im April 1933 fahren sie allerdings nicht direkt nach Moskau. Sie reisen in das aufgewühlte Berlin, weil die Sowjetunion in Bern keine Botschaft unterhält. Und sie schliessen sich einer kommunistischen Widerstandszelle an. Nicht auf das Leben in der Illegalität vorbereitet, fliegt die Gruppe schon drei Monate später auf.
Im August 1933 können die Glarners ihre Tochter Lili im Untersuchungsgefängnis Moabit besuchen, wo sie in Einzelhaft auf ihre Anklage wartet. Das Gefängnis, Mitte des 19. Jahrhunderts errichtet, ist ein riesiger Bau im Zentrum Berlins. Spätestens seit dem Reichstagsbrand werden hiervor allem die politischen Gefangenen der Nazis festgehalten. Danach beschränkt sich der Kontakt auf die Briefe, die Lili alle zwei Wochen schreiben darf. Zwischen September und Dezember 1933 ist ihr Bemühen vordringlich, sich an ihre Situation zu gewöhnen. Ab Januar 1934 werden ihre Briefe kürzer, weil es keine «Neuigkeiten» gäbe. Sie schreibt von gesundheitlichen Problemen und äussert, nur scheinbar scherzhaft, die Befürchtung, dass die lange Einzelhaft sie in ein asoziales Wesen verwandelt. Ab Mai 1934 wird die wachsende Ungeduld und Verzweiflung spürbar, mit der Lili Glarner die Anklageerhebung erwartet. Der letzte Brief datiert vom 28. September 1934. Eine Woche später erhält Lili Glarner ein Schreiben des Polizeipräsidenten Berlins, in dem ihr aus heiterem Himmel und ohne Begründung ihre Ausweisung aus Deutschland bekanntgegeben wird.
Sind es die Bemühungen von Paul Glarner, die zu dieser überraschenden Wendung geführt haben? Das Dossier zum Fall Lili Glarner, das im Bundesarchiv Bern lagert, lässt diesen Schluss zumindest als Möglichkeit zu. Paul Glarner hat ab Oktober 1933 nichts unversucht gelassen, um die Freilassung seiner Tochter zu erwirken. Er hält engen Kontakt zum Politischen Departement und wendet sich brieflich an den Bundesrat Motta, als er den Eindruck bekommt, dass sich die Behörden nicht ausreichend bemühen. Er ist zunehmend verärgert, weil er sich hingehalten fühlt. Die Schweizer Gesandtschaft in Berlin wiederum verweist auf das Chaos in der deutschen Justiz nach der Machtergreifung und appelliert an die Geduld Glarners.
In seinen Schreiben an die Offiziellen lässt Paul Glarner durchblicken, dass er neben den formellen Wegen auch informelle Kanäle nutzt. Dabei taucht mehrfach ein Name auf, der direkt in die Spitze der deutschen Regierung führt: Rudolf Hess. Der Kontakt zum Stellvertreter des Führers Adolf Hitler kommt über familiäre Kontakte eines befreundeten Unternehmers zustande. Und tatsächlich beschäftigt sich Hess mit dem Fall der jungen Schweizerin. Ob dieser politische Druck innerhalb des deutschen Machtapparates für ihre Entlassung verantwortlich war, ist nicht erwiesen. Aber im September verschwindet ihr Name wie von Zauberhand aus der Anklageschrift.
Am 25. Oktober 1934 kann Paul Glarner seine Tochter am Badischen Bahnhof in Basel in Empfang nehmen. Eli Dutilh hingegen wird im Februar 1935 zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Nach seiner Freilassung verlässt er Europa und baut sich in Lateinamerika eine neue Existenz auf.
In einem Dankesschreiben an Bundesrat Motta verleiht Paul Glarner seiner Hoffnung Ausdruck, dass die Zeit der Inhaftierung bei Lili einen politischen Läuterungsprozess auslösen würde. Darin sollte er sich allerdings täuschen. Lili Glarner bleibt zwar ihr restliches Leben im Aargau und in der Nähe ihrer Familie. Zugleich aber hält sie an ihren politischen Überzeugungen fest. Sie arbeitet für die sowjetisch dirigierte Nachrichtenagentur RUNA in Zürich und heiratet 1938 Helmut Zschokke, ihren ehemaligen Mitschüler von der Alten Kanti Aarau, der als überzeugter Kommunist selbst so etwas wie das schwarze Schaf der angesehenen Aarauer Familie ist und wegen seiner politischen Aktivitäten 1937/38 eine mehrmonatige Haftstrafe im Gefängnis Lenzburg absitzen muss. Nach dem Verbot der Kommunistischen Partei Schweiz 1943 engagieren sie sich bei den Aargauer Sozialdemokraten. In den folgenden zehn Jahren kommen fünf Töchter und ein Sohn zur Welt. Während Helmut mehr schlecht als recht ein Optikergeschäft an der Aarauer Kasinostrasse führt, trägt Lili als Sekretärin und Übersetzerin wesentlich zum Familieneinkommen bei. Doch das Stigma als «gefährliche» Kommunisten verfolgt die Zschokkes bis weit über die 40-er-Jahre hinaus. Immer wieder ordnet die Kantonspolizei eine Überwachung der Familie an, regelmässig lesen Behörden ihre Korrespondenz im Rahmen einer Postkontrolle mit – eine Erfahrung, die die Familie zum Teil bis heute prägt.
1965 verstarb Lili Zschokke-Glarner im Alter von 56 Jahren an einer Krebserkrankung. Lili Glarners Erlebnisse werfen ein Schlaglicht auf die bewegten Monate Anfang der 30er-Jahre des vorigen Jahrhunderts, die auch in der Schweiz zu einer schweren innenpolitischen Krise geführt haben. Aber darüber hinaus wirft ihre Geschichte angesichts der Krisen unserer Gegenwart, und dabei insbesondere der Bedrohung der liberalen Demokratien durch Populismus und autoritäre Regimes, einen langen Schatten in die Gegenwart.
Dramaturgie eines Alptraums
Wie lässt sich dieses Ereignis darstellen, das Lili Glarner nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 schlagartig ereilte und das für die Ewigkeit von 15 Monaten andauerte? Was ging in der Psyche der jungen Kommunistin aus Wildegg vor, die getrennt von ihrem Partner unter fadenscheinigen Vorwürfen von der Gestapo inhaftiert wurde? Wie kann man diese Zäsur, ja diesen Riss zum Sprechen bringen? Ihr Aufbegehren, ihr Verzweifeln, ihr Resignieren? Diesen dramaturgischen Herausforderungen stellt sich das Stück «Aus der Zeit» von Peter-Jakob Kelting (Text und Regie). Im Modus einer Spurensuche nimmt die Aargauer Schauspielerin Nathalie Imboden die Zuschauenden mit auf eine innere Reise in das Erleben von Lili Glarner.
Basis dafür bildet das dokumentarische Material, das Kelting in den Archiven des Landes zu Tage gefördert hat. Herzstück sind die 23 Briefe aus der Haft von Lili an die Mutter, hinzu kommen der Briefwechsel des Vaters mit den Schweizer Behörden, Auszüge aus ihrer Strafprozessakte und die Zeitzeugenberichte von anderen damals inhaftierten Personen. Somit fächern sich kaleidoskopartig Perspektiven auf den Haftalltag und den Zeitgeist auf, die diese junge Existenz gefangen und ihre Eltern in Beklemmung halten. Nathalie Imboden tastet sich als Forschende entlang der Textfragmente vor – stets im Wissen, dass diese wegen der Zensur verschlüsselt und ihre eigentlichen Botschaften versteckt sind. In den Briefen taucht wiederkehrend das Motiv des Strickens auf, als Zeitvertreib und vielleicht auch als Sinnbild für die Situation, in der sich die Briefeschreiberin befindet. Bühnenbild und Kostüm (Susanne Boner) nehmen dies auf und verweben das individuelle Schicksal mit den gesellschaftlichen Bedingungen. Auf einer weiteren dramaturgischen Ebene begegnen dem Publikum Handpuppen, die Lili Glarners späterer Mann Helmut Zschokke etwa zehn Jahre nach ihrer Haft für ihre beiden Kinder schnitzte. Diese Figuren, auf eigene Art Zeitzeugen, tauchen in den Visionen von Glarner auf. Als Videoprojektionen bilden sie im Stück eine weitere Folie dieses historischen Alptraums.
Das Zögern der Schweizer Behörden, die willkürliche Repression des Nazi-Apparats – der Schatten der Geschichte reicht in unsere Gegenwart: Wie wäre, ja wie ist es heute?
Von Michael Hunziker