Die Eva-Seck-Kolumne
Ich stapfe durch das Naherholungsgebiet, der Regen fällt so fein und dicht, als käme er aus einer Spraydose, und so atme ich, als sei ich in einem meiner Unterwasserträume. Die Regenzunge hat an den Blättern, dem Moos und den Pflanzen geleckt, alles glänzt wie frisch lackiert. Ich knie neben einem verblühten Löwenzahn, dessen feines Silberhaar jetzt wie ein dicker Wachstropfen nach unten hängt, wunderschön, denke ich, mache ein Foto und schicke es einer Freundin. Sie antwortet, dass es bei ihnen in Berlin seit drei Monaten nicht mehr geregnet habe und ihr die Tränen kämen bei dem Bild. Ich frage nach: Ob sie wirklich geweint habe? Sie antwortet: Der Baum vor ihrem Fenster lasse seit Wochen die Blätter hängen, die Sonne mache sie nicht mehr froh. Es tut mir leid, schreibe ich zurück und während mir die sogenannte schwarze Bise eine weitere Tröpfchenschicht auf das Gesicht legt, wird mir bewusst, wie viel Glück wir in diesem Zipfelchen der Schweiz in diesem Frühjahr hatten und wie schwer es ist, sich die prekären Umstände vor Augen zu führen, und seien sie noch so nah wie die jüngsten Überschwemmungen im Wallis oder im Tessin, wo mehrere Menschen wegen des Unwetters starben. Natürlich fühlt es sich kurzfristig besser an, die klimatischen Tatsachen und die damit einhergehenden Gefühle zu verdrängen, aber Europa bleibt trotzdem der sich am schnellsten aufheizende Kontinent der Erde. Vielleicht sollten wir damit beginnen, darüber zu sprechen, wie sich die Verluste, die diese Veränderungen bringen, anfühlen. Die Wut, die Angst, die Unsicherheit, die Trauer. Und auf den Tag warten, an dem wir nicht mehr einfach so tun, als wäre das alles normal.
Eva Seck (*1985 in Rheinfelden) schreibt Lyrik, Prosa und essayistische Texte. Ihr letzter Gedichtband «versickerungen » erschien 2022 im Verlag «die brotsuppe» in Biel. Sie lebt mit ihrer Familie in Basel.