Flexionen des Alltags

JEDE*R IST JEMAND

Von
Eva Seck

Die Eva-Seck-Kolumne

Als wir vor kurzem durch das eisige Solothurn zur Premiere des Films «Die Anhörung» liefen, begleitete uns Pascal, einer der Protagonisten dieses eindrücklichen Dokumentarfilms. Er erzählte uns von seiner Frau und seinen Kindern, die in Kamerun lebten, über seinen noch immer ungewissen Aufenthaltsbescheid und über die grosse Belastung, die dies für ihn und seine Familie bedeutet. Er berichtete uns von der Einsamkeit, die er seinerseits wahrnimmt, wenn er im ÖV fährt und die Menschen darin beobachtet. Alle blieben für sich, man schaue sich kaum an. Diese Einsamkeit scheint sich in seiner Eigenen zu spiegeln. Er erzählte von den Asylunterkünften, die fast alle peripher und ebenfalls einsam an den Rändern von Städten und damit an den Rändern unserer Wahrnehmung liegen. Es soll möglichst kein Kontakt oder gar eine Begegnung, ein Gespräch zwischen den Ankommenden und den Ansässigen zustande kommen. Es könnte ja so etwas wie Freundlichkeit, Wärme oder Verständnis entstehen. Er erzählte auch von Kamerun, wo es unmöglich sei, im Bus zu fahren, ohne mit jemandem ins Gespräch zu kommen. Man grüsst sich, man tauscht sich aus und dann geht man wieder auseinander. Nach der Premiere des Films steht Pascal auf der Bühne und spricht mit klarer Stimme ins Mikrophon.

Er betont, wie wichtig es wäre, dass Geflüchtete nach der Asyl-Anhörung psychologische Hilfe bekämen und nicht völlig alleine gelassen würden. Der Zustand der Menschen nach den Anhörungen sei höchst prekär. Jeder ist jemand, sagt er, aber viele denken, wir sind niemand. «Die Anhörung» hat den diesjährigen Prix de Soleure gewonnen und läuft zurzeit in den Schweizer Kinos.

Eva Seck (*1985 in Rheinfelden) schreibt Lyrik, Prosa und essayistische Texte. Ihr letzter Gedichtband «versicke­ rungen» erschien 2022 im Verlag die brotsuppe in Biel. Sie lebt mit ihrer Familie in Basel.