Tagebuch

In den Windkanälen der Geschichte

Tagebuch aus Berlin Friedrichshain von Nathalie Schmid

Als ich Anfang Januar am Frankfurter Tor aus der U-Bahn steige, stehe ich im Windkanal einer riesigen Allee und kurz verschlägt es mir den Atem. Es ist die Karl-Marx-Allee, die nach Westen direkt auf den Alexanderplatz zuführt und nach Osten zur Frankfurter Allee wird, die noch bis 1961 Stalin-Allee hiess. Umsäumt ist sie von wuchtigen Gebäuden, ehemaligen Arbeiterpalästen und einmal mehr bin ich überwältigt von der Grösse dieser Stadt, wie sie sich in alle Richtungen ausdehnt, in Zeit, Raum, Möglichkeiten, ich fühle mich plötzlich lebendiger und hellwach.

Im Studio richte ich mir meinen Arbeitstisch ein, bastle eine kleine Tribüne für den externen Bildschirm, damit ich nicht den ganzen Tag gekrümmt über dem Laptop sitze. Ich kaufe mir eine Zimmerpflanze. Ich wärme mir die Hände und lege los. Womit? Mit dem Textgewebe, aus dem ein Roman werden soll. Wort für Wort, Passage für Passage, das Gewebe muss gebaut und manchmal wieder dekonstruiert werden, um entstehen zu können. Ich schreibe vormittags und später, wenn die Luft raus ist, erkunde ich die Gegend. Den Friedrichshainer Volkspark zum Beispiel, wo eine Weltfriedensglocke mit der Inschrift Möge Friede auf Erden sein unterhalb des Mont Klamott steht, ein ehemaliger Bunker, den die Trümmerfrauen 1946 aus dem Schutt der Stadt zusammengetragen haben. Ich gehe bis zum Boxhagener Platz, wo jeden Sonntag, auch bei Minustemperaturen ein Flohmarkt aufgebaut wird und sich das ehemalige Top-Ausgehviertel der Neunziger befindet. Ich lese vom grossen Club-Sterben der Stadt, an einer Hauswand steht gentrifickt euch. Später stehe ich vor dem ersten Hochhaus der DDR an der Weberwiese, über dessen Eingangstür ein Zitat von Brecht hängt: Friede in unserem Lande/Friede in unserer Stadt/dass sie den gut behause/der sie gebauet hat. Hier wurde also für die Arbeiter gebaut und hier, am Frankfurter Tor hat 1953 der erste Arbeiteraufstand der DDR stattgefunden, der blutig niedergeschlagen wurde.

Es gibt so viel, was nicht mehr ist, wie es einmal war, was zusammengefallen und zerstört und neu gebaut wurde, als wäre dies das eigentliche Material, aus dem Berlin besteht, ein ständiges Werden und Vergehen.

Ich finde ein Café an der Karl-Marx-Allee, dass sich gut zum Schreiben eignet, falls ich mal woanders schreiben muss. Die Frau hinter der Theke kommt aus dem Tessin und lebt seit elf Jahren hier, sie hat alles gesehen, sagt sie, alles schon erlebt, aber jetzt muss sie wieder weg, die Winter sind zu hart, der Wind zu kalt und zu viele Männer hier haben einen Knall.

Zur Person: Nathalie Schmid (*1974 in Aarau) lebt in Baden. Die Autorin wird bis März im Atelier des Aargauer Kuratoriums in Berlin an einem neuen Roman arbeiten. Im März erscheint ihr neuer Gedichtband Ein anderes Wort für einverstanden im Gans-Verlag, Berlin.