Das offene Objekt

Im Takt der Tinte

Von
Rudolf Velhagen

Schutzhülle für einen «Tintenbletz», um 1945, Baumwolle, Barchent, 8 cm x 10 cm, Sammlung Museum Aargau, Inv.-Nr. K-21545

Wer mit Tinte schreibt, muss sich in Geduld üben: Die Wörter trocknen langsam, jeder Buchstabe braucht Zeit. Ein Löschblatt hilft, die überschüssige Tinte aufzunehmen – nicht als Fehlerkorrektur, sondern als treuer Begleiter eines bewussten, verlangsamten Prozesses. Die handgemachte Schutzhülle für ein Tintenblatt, entstanden um 1945, erzählt von dieser Haltung. Sie schützt nicht nur das Löschpapier, sondern auch einen anderen Wert: die Zeit, die man sich zum Schreiben nimmt.

In unserer «modernen Welt», in der alles sofort geschehen soll – die Antwort, die Reaktion, die Entscheidung –, wirkt ein Tintenbrief wie ein Akt des Widerstands. Schreiben mit Füllfeder und Tinte wird zu einer Absage an ständige Erreichbarkeit.

Unverfügbarkeit bedeutet allerdings nicht Weltfremdheit, sondern Tiefe: Sie ist der Raum, in dem sich das Selbst entwickeln kann.

Vielleicht brauchen wir heute mehr Tinte, mehr Löschblätter, mehr Hüllen – nicht aus Nostalgie an die «Welt von gestern», sondern als Erinnerung daran, dass uns der Takt der Tinte neue, ansonsten verborgene Wahrnehmungsebenen eröffnet. Viel Freude beim Schreiben mit Tinte!

Rudolf Velhagen, Chefkurator bei Museum Aargau, erkundet an dieser Stelle die verborgenen Botschaften der Dinge. Nicht weniger als 55 000 historische Objekte aus der kantonalen Sammlung warten auf ihre Befragung.