Beromünster, Landessender, Blick nach Sursee und Mauensee.
Comet Photo AG, Zürich. ETH-Bildarchiv
Zum 80. Geburtstag von Klaus Merz laden das Forum Schlossplatz in Aarau, die Galerie Litar in Zürich und das Theater Marie ein, die Welten des Aargauer Autors (neu und wieder) zu entdecken. Eine poetische Reise durch äussere und innere Räume, durch Zeiten und familiäre Kosmen.
Innenschau und sprachliche Verdichtung prägen das Werk von Klaus Merz. Die Texte des Aargauer Autors sind eher leise, jedoch umso eindringlicher und gewichtiger. Sie finden einen Echoraum weit über die Schweizer Grenzen hinaus. Seit dem ersten Gedichtband «Mit gesammelter Blindheit» (1967) ist in sechzig Jahren ein sehr vielseitiges Œuvre entstanden: Es umfasst Lyrik, Prosa – Erzählungen, Novellen, kurze Romane und Essays – sowie Theaterstücke, Hörspiele und Kinderbücher. Rund dreissig Bücher sind es, versammelt in einer Werkausgabe, doch wächst das Werk weiter, in behutsamen Suchbewegungen streckt es seine Fühler in immer neue Richtungen aus: etwa ins Innenleben einer mittelländischen Firma («firma», 2019) oder es folgt den Lichtspuren der Erinnerung («Noch Licht im Haus», 2023).
Klaus Merz’ Literatur ist in einem weltläufigen Sinne regional verankert. Im Wynental im Kanton Aargau geboren und aufgewachsen, lebt der Autor bis heute dort. Doch schwärmen seine Figuren aus, Auswanderer, Aussteiger und Rückkehrer bevölkern seine Texte: etwa der Grossvater in der Novelle «Der Argentinier» (2009), der zurückkehrt und als Dorflehrer eine eigene «neue» Welt aufbaut. Die Welthaltigkeit seines Werks spiegelt sich auch in der Vielzahl der Übersetzungen: ins Französische, Italienische, Englische und Spanische ebenso wie etwa ins Russische und Persische.
Sehen! – lautet das Postulat, das Klaus Merz’ literarische Recherche seit vielen Jahren leitet. Es handelt sich um eine nach innen und aussen tastende Bewegung und zugleich um ein geduldiges Warten, bis sich Bilder von selbst auf der Netzhaut einprägen und als Erinnerung ablagern. In diesem Sinne sind nicht nur die vielen Gedichte und Essays, die sich mit bildender Kunst und Fotografie auseinandersetzen («Das Gedächtnis der Bilder», 2014), sondern alle seine Texte «Sehstücke». Die Gedichte entstehen langsam, manche über Jahre, und jedes nicht absolut notwendige Wort wird dabei ausgeschieden. Es ist ein Prozess sukzessiver Reduktion, bei dem am Schluss das Nicht-Schreiben «als ein Akt des Schreibens schlechthin» erscheint. «Texte müssen gut abgehangen sein» – diesem Credo verpflichtet, lässt sich Klaus Merz Zeit, sodass Erlebtes einsinken kann, bis es sich langsam verwandelt zu Literatur. Es bleibt dann nur noch die Essenz. So etwa in seinem Hauptwerk, dem kurzen Roman «Jakob schläft» (1997), mit dem Klaus Merz international Beachtung fand. Die Familiengeschichte erzählt von Krankheit, Versehrtheit und dem Tod, sie preist aber auch das Leben und die Verbundenheit zwischen Menschen. Zwar sind Krankheit und Tod Leitmotive seines Werkes, doch ist es durchwebt von einer lichtvollen Heiterkeit und schwebenden Tiefe und immer bestrebt, das «latente Material» unter der Oberfläche des Alltags hervorzubringen.
Von Christa Baumberger
Die Wunderschuhe anziehen! befahl
Grossmutter, setzte sich zu uns
aufs Kanapee, begann zu erzählen:
Schon waren wir über alle Berge.
Klaus Merz
In Klaus Merz’ Gedicht «Befehlsgewalt» spricht nicht das Oberhaupt einer Armee, kein Politiker, keine Firmenchefin – wie dem Titel nach zu erwarten wäre – sondern die Grossmutter: «Die Wunderschuhe anziehen!»
Befehle lassen sehr oft keinen Zweifel daran, wie sie zu befolgen sind. Doch wie gehorcht man dem Befehl «Wunderschuhe anziehen»? Eingeweihte wissen es – die Kinder verstehen die Anweisung der Grossmutter sofort, nämlich als Codewort, und da die Kinder (noch) in der Welt der Fantasie leben, müssen sie für die bevorstehende Reise nichts tun, ausser sich auf dem Kanapee in Bereitschaft bringen, um der Erzählung der Grossmutter Gehör zu schenken.
Dem Befehl gehorchen bedeutet also hinhören oder hinhorchen, dann kann sich das im Befehl enthaltene Versprechen bewahrheiten.
Und wie schnell alles geht! Jede Silbe ist ein belebender Schritt, von einem Wort zum nächsten, und kaum beginnt die Grossmutter zu erzählen, sind die Kinder weit weg: «Schon waren wir über alle Berge.» Und der Punkt ist kein Schlusspunkt, sondern eine Atempause. Vor dem Übertritt in die andere Welt, in eine neue Wirklichkeit. Über alle Berge? Ja sicher, auf dem Kanapee beieinander sitzend, die erzählende Grossmutter und die aufmerksamen Kinder, gemeinsam in gehobener Laune und in beschwingtem Rhythmus … auf und davon … alleinige Bedingung fürs Gelingen: Schuhe aus einzigartigem Stoff – Wunderschuhe! Äusserst kostengünstig, schadstoffarm und schwerelos!
Ja, lassen Sie uns die Wunderschuhe anziehen – und es genügt, einen Vokal zu verschieben, um über alle Berge zu sein; es sind also keine atmungsaktiven Bergschuhe nötig, La Sportiva Nepal, mit Duratherm Futter, aus wasserabweisendem Leder, steigeisenfest und mit herausnehmbarer Zunge! Für den Einsatz im Buchstabengebiet sind, wie gesagt, gespitzte Ohren von Vorteil; ob geputzt oder nicht, spielt keine Rolle, ebenso wenig, ob sie geschmückt sind oder nicht. Der schwindelfreie Übertritt in unbekannte Regionen gelingt allerdings nur mit der Vorstellungskraft und wenn wir Ballast abwerfen, die Last des Vertrauten, und uns einer Befehlsgewalt ausliefern, die alle Autoritäten aushebelt: der Literatur.
Dieses Gedicht en miniature, es erzählt charmant und schön, verspielt und ernst von der Kraft der Poesie und ihrer Poetologie – beides in einem, à la Merz, kein Blabla, sondern köstlicher Sirup; keine schmallippige Belehrung, sondern Anschauungsunterricht. Oh, und der Witz! Er sitzt im Titel, im Tempo, im Umkrempeln der Erwartungen: Befehlen und sich dann als Leserin hinsetzen zu den Befehlsempfängern? Genau so!
Und ich höre das Gedicht als Chor: Helle, frei klingende Stimmen, die nicht aufhören, sondern immer wieder beginnen, eine zärtlich-kräftige Ode an die Poesie.
Von Melinda Nadj Abonji
AARAU Stadtmuseum, Mi, 22. Oktober, 18.30 Uhr; Melinda Nadj Abonji und Klaus Merz lesen aus früheren und aktuellen Texten
AUSSTELLUNG Die Galerie Litar Zürich stellt das Hauptwerk von Klaus Merz ins Zentrum ihrer multimedialen, vielstimmigen Ausstellung. Die Familiengeschichte «Jakob schläft» (Haymon 1997) spielt zwar in einem Dorf in den 1950er-Jahren, wirft aber auch heute noch aktuelle Fragen auf: Was macht Behinderung mit der Familiendynamik, wie verhalten sich Liebe und Trauer über den Tod hinaus? Manuskripte und Dokumente geben Einblick in den Schreibprozess; und auch der Dichterbruder Martin Merz ist zu entdecken. Ein vielfältiges Programm eröffnet interessante Zugänge. mh
ZÜRICH Galerie Litar, Fr, 12. September, 18 Uhr (Vernissage); bis 29. November, Programm: litar.ch
Regula Engeler, Untitled, aus der Serie [Flâneuse], 2024.
Regula Engeler
AUSSTELLUNG Sehen, Reisen und Erinnerung – das Forum Schlossplatz in Aarau stellt einige der zentralen Themen in Klaus Merz’ Werk in denFokus und verbindet sie mit den vielen visuellen Spuren in seinen Texten. So finden Literatur und Bildende Kunst zusammen: Die drei Künstlerinnen Barbara Davi, Regula Engeler und Irma Ineichen knüpfen facettenreich Bezüge und verweben Sprache und Bild zu überraschenden Konstellationen. Auf der Beletage sind Kunstwerke aus der privaten Sammlung von Selma und Klaus Merz zu entdecken. In einer «Dunkelkammer» können die Besucher*innen in die künstlerischen Schaffensprozesse von Klaus Merz eintauchen. Die Ausstellung wird von einem reichhaltigen Programm gerahmt. mh
AARAU Forum Schlossplatz, Do, 4. September, 18.30 Uhr (Vernissage); bis 18. Januar
Programm: forumschlossplatz.ch
Wie aus dem Werk von Klaus Merz: Theater Marie inszeniert Motive und Figuren.
Foto: Valentina Verdesca
BÜHNE Das Theater Marie und Klaus Merz sind sich keine Unbekannten: 1986 hat der Autor dem Ensemble das Textkonzept zum Gilgamesch Epos erarbeitet und 2014 wurde sein Stück «Der Argentinier» inszeniert. Anlässlich seines 80. Geburtstags widmet ihm nun das Theater Marie die Produktion «Eine Ahnung vom Ganzen». Es begegnen uns Figuren und Motive aus seinen Werken wieder – «Aussenseiter*innen, Sonderlinge und Nerds, die an etwas dranbleiben wollen, aber selber nicht genau wissen, woran», so Manuel Bürgin, der mit Miriam Japp die Textfassung für diesen Theaterabend kuratiert hat. Eine Gelegenheit, sich an die eigenen Leseerlebnisse mit den poetischen Mitteln des Theaters zurückführen zu lassen. mh
AARAU Alte Reithalle, Sa, 6. September, 20 Uhr (Premiere); So, 7. September, 17 Uhr; Mi/Do, 15./16. Oktober, 20 Uhr. Weitere Vorstellungen in der Deutschschweiz: theatermarie.ch
Ein Geburtstagsbuch
Die Publikation «Merz Welt», Edition Litar 06 (Hg. Christa Baumberger und Lena Friedli) verbindet die beiden Ausstellungen im Forum Schlossplatz Aarau und in der Galerie Litar in Zürich. Mit einem Gespräch mit Klaus Merz und Originalbeiträgen von Nora Gomringer, Marion Graf, Melinda Nadj Abonji, Teresa Präauer und Theres Roth-Hunkeler. Die beiden hier im AAKU veröffentlichten Texte sind mit freundlicher Genehmigung daraus entnommen.