Literatur

Detektivarbeit um die Leerstelle des Vaters

Von
Luzia Stettler

Nimmt ein schweres biografisches Kapitel unter die Lupe: Zora del Buono in «Seinetwegen». Foto: Stefan Bohrer

Im Band «Seinetwegen» macht sich Zora del Buono 60 Jahre nach dem Unfalltod ihres Vaters auf eine besondere Spurensuche: Was genau ist damals tatsächlich geschehen? Für dieses Werk gewann die Zürcher Autorin den diesjährigen Schweizer Buchpreis. Ende Mai liest sie im Literaturhaus Lenzburg.

Zora del Buono hat ihren Vater nie kennengelernt; sie war erst 8 Monate alt, als er bei einem Verkehrsunfall auf einer Landstrasse zwischen Glarus und St. Gallen ums Leben kam: ein junger Mann auf der Gegenfahrbahn hatte sein Auto nicht im Griff und donnerte – nach einem riskanten Überholmanöver – frontal in den VW-Käfer des vielversprechenden Radiologen del Buono. Dieser starb fünf Tage später im Zürcher Universitätsspital, wo er selbst angestellt gewesen war, an den Folgen der Kollision. Zora del Buono wuchs alleine mit ihrer Mutter auf. Der Vater sei für sie immer eine Leerstelle geblieben, erzählt sie im Gespräch. Wenn immer sie Fragen stellte, spürte sie, wie die Mutter wieder in Trauer verfiel. Also mied sie geflissentlich das Thema, um nicht unnötig Schmerzen zu verursachen; sie selbst hatte den Vater ja nie gekannt; also vermisste sie ihn auch nicht.

Erst im Alter von 60 Jahren reifte der Entschluss, jenes dunkle Kapitel in der eigenen Biografie etwas näher unter die Lupe zu nehmen: Wer war dieser «Töter», der ihren Vater auf dem Gewissen hatte? Ist er gar noch am Leben? Und wie ist er mit seiner Schuld zurecht gekommen?

Sie besucht Archive und Gemeindeämter, spricht in Altersheimen vor, und diskutiert die Resultate an der wöchentlichen Kaffee-Runde mit Freund*innen. Wir schauen ihr beim Lesen quasi über die Schulter, erfahren erstaunliche Details, die sie dank hartnäckigen Fragen und kooperativen Angestellten zu Tage fördert. Gleichzeitig spüren wir auch an Stil und Ton ihrer Schilderungen, wie sich ihre Einstellung zum einstigen Rowdy subtil verändert: sie realisiert, dass auch sein Leben bis ins hohe Alter überschattet blieb.

Warum erst mit 60?

Auf die Frage, warum sie sich nicht früher an diese Detektivarbeit gemacht habe, verweist Zora del Buono auf ihren früheren Erfolgsroman «Die Marschallin», in dem sie die abenteuerliche Geschichte ihrer Grosseltern del Buono literarisch aufgearbeitet hatte: Dieser Familienroman sei als Basis nötig gewesen, um sich erneut mit seinen Nächsten zu beschäftigen. Auch hänge der späte Zeitpunkt mit der Demenz ihrer Mutter zusammen; erst jetzt, da sie mit ihr nicht mehr sprechen konnte, musste sie nicht länger Rücksicht nehmen. Aber vielleicht sei die grosse Distanz zum Unfallereignis auch einfach nötig gewesen, «um mir zuzutrauen, die Ergebnisse dieser Recherche überhaupt zu verkraften. Es war ganz und gar unklar, wohin die Reise führt.» Mit grosser Sensibilität und präziser Sprache schildert sie in diesem Buch, was es heisst, Lücken in der eigenen Identität zu füllen. Und «die Reise», wie sie diese Nachforschungen in der eigenen Geschichte nennt, geht noch laufend weiter: immer wieder melden sich nach Lesungen Leute, die den Vater oder den Unfallverursacher noch persönlich gekannt haben. «Manchmal muss ich mir zweimal überlegen, ob ich all diese Informationen überhaupt ertragen kann.»