Ausstellung

Das Gewöhnliche, das Schöne

Von
Laura Aellig und Klaus Merz
Fotos
Werner Erne

Das Stadtmuseum Aarau zeigt Bilder aus dem Nachlass des Aarauer Fotografen Werner Erne und lässt sie in den Dialog mit dem Schriftsteller Klaus Merz treten. Die Werke sind nicht nur eindrückliche Zeugen der Mentalitätsgeschichte, sondern eröffnen auch intuitiv poetische und ästhetische Assoziationen.

«Fotografie bedeutet für mich Bilder sehen, suchen, finden, erfinden, entdecken. Sie zeigt nicht die Wahrheit. Fotografie ist meine Wahrheit», schrieb einst Werner Erne.

Sein Werk ist geprägt von genau dieser Suche nach dem Bild, der eigenen Wahrheit. Egal, ob Erne im Auftragsverhältnis Wiener Würstchen, die Arbeit in einer Industriehalle oder einen Wohnblock fotografierte oder in seinen freien Arbeiten die Geometrie von Blütenblättern, Hochhausfassaden oder Schwarzeis einfing, seine Fotografien sind nie nüchternes Abbild, sondern immer bewusst gestaltetes Bild.

Der Wahlaarauer Erne ist in Zürich aufgewachsen und gelernter Glasbläser. Zwei Jahre nach Lehrabschluss brach er per Autostopp und mit seiner ersten Kamera nach Nordafrika auf. Von seinen Wanderjahren blieb die Lust am Reisen und der Wunsch, das Fotografieren zum Beruf zu machen. Er absolvierte die Fotofachklasse an der Kunstgewerbeschule in Zürich, bei Hans Finsler, dessen sachlicher Bildsprache er immer treu blieb. Ab 1960 führte Erne in Aarau sein eigenes Fotoatelier für Werbe-, Industrie- und Architekturfotografie.

Werner Erne bewegte sich mit seinen Kameras stets in vielen Welten. Er dokumentierte die Tätigkeiten namhafter Firmen aus der Region (etwa Kern, Bally). Als Dokumentarist der hiesigen Kulturszene hielt er Vernissagen, Konzerte oder Theateraufführungen fest. In seinen eigenen künstlerischen Arbeiten untersuchte Erne die visuellen Ordnungen und Strukturen der Natur und der gebauten Umwelt.

Mit diesem breiten Panoptikum an analogen Fotografien aus rund 50 Jahren fotografischen Schaffens hatte sich Werner Erne im September 2019 an das Stadtmuseum Aarau gewandt, mit dem Wunsch, seinen fotografischen Vorlass dem Museum zu vermachen. Seither hat das Stadtmuseum

die etwas mehr als 200 000 Fotografien in Form von Negativen, Dias und Abzügen konservatorisch für die Langzeitarchivierung gesichert und grösstenteils inventarisiert. Am 30. Oktober 2024 ist Werner Erne im Alter von 93 Jahren gestorben. Das Stadtmuseum hat sich zur Aufgabe gemacht, sein fotografisches Erbe zu bewahren und der Nachwelt zugänglich zu machen. Dafür wurde eine Auswahl von rund 1000 Fotografien zusammengestellt und digitalisiert, die auf der Onlinesammlung des Museums einsehbar ist. Mit der Ausstellung «werner erne: die schönheit im gewöhnlichen sehen» wird entlang von fünf thematischen Clusters einen Einblick in diesen riesigen Bilderschatz gegeben.

Schöne neue Welt – die Werbefotografien

In den Sach- und Werbeaufnahmen tritt Ernes formale Bildsprache besonders deutlich hervor. Die Objekte sind perfekt ausgeleuchtet und mit Sinn für Geometrie und Form des Objektes angeordnet. Das geometrische Zusammenspiel von Flächen und Linien, bewusst gestalteten Anschnitten, Repetitionen, Symmetrien und Diagonalen gehört zu seinen visuellen Strategien, die Erne von Hans Finsler und dessen «optischer Grammatik» gelernt hat.

Gleichzeitig gewähren die Fotografien einzigartige Einblicke in die Ästhetik, den Geschmack und die Mode der 1960er- und 70er-Jahre.

Hommage an den Beton – die Architekturfotografie

Werner Ernes Nähe zur «Neuen Sachlichkeit» in der Fotografie geht einher mit seinem Interesse fürs «Neue Bauen» und dessen klare Formensprache der (Nachkriegs-) Moderne. Unter seinen Auftraggebern waren Architekturbüros wie Metron, W. E. Schär aus Zürich oder das für den Massenwohnungsbau bekannte Generalunternehmen AG Fritz Frei aus Buchs. Die im Auftrag entstandenen Fotografien sind vielfältig und reichen von Dokumentationen der Neubauten über Aufnahmen der Baustelle bis hin zu schlichten Reprofotografien von Plänen und Modellen.

Von Werkhallen und Computern – die Industriefotografie

Hangars, Werkhallen, Zementwerke, Labore, Ateliers und Büros: Die unter dem Schlagwort Industriefotografie gesammelten Bilder geben einen Einblick in die Arbeitswelten der einstigen Produktionsstätten von Firmen wie Kern (Präzisionsinstrumente), Bally (Schuhe), Hassler (Teppiche), Jura Zement, Werder und Schmid (AV-Geräte), Gloria (Glühbirnen) oder Schwarz (Stahlbau). An den fotografierten Arbeitsplätzen lassen sich über die Zeit die strukturellen Veränderungen in der Schweiz vom Industrie- zum Dienstleistungssektor mitverfolgen.

Ernes Industriefotografien sind alle im Auftragsverhältnis entstanden, Mit grosser Sorgfalt und visueller Klarheit hat er die Arbeitsplätze festgehalten. Entstanden sind ästhetische Bilder, welche die Arbeiter*innen im Einklang mit den Maschinen zeigen – kontemplativ in ihre Arbeit versunken. Die Fotografie darf in diesem Kontext aber nicht als dokumentarische Aufzeichnung missverstanden werden. Sie verschleiert, dass die Menschen dem Takt der Maschine unterworfen waren und oft Schwerstarbeit leisteten.

Kultur in Aarau – die Dokumentar- und Kunstfotografie

Andere Welten erkundete Erne auf eigene Initiative, wie beispielsweise die für Aarau prägende Kultur des Pferderennens. Mit seinem 1967 erschienen Bildband «Passion Pferderennen» gestaltete Werner Erne ein bildstarkes Buch. Blickrichtungen und Blickregime ergeben über die Seiten hinweg eine spannende Dramaturgie.

Aus persönlichem Interesse hat Erne das kulturelle Leben in Aarau und der Region fotografiert. Die Bilder zeigen seine grosse Leidenschaft für das kulturelle Schaffen und sein Kunstverständnis, das sich nicht von Gattungen und Sparten einschränken liess.

Zurück zum Anfang – die Reisefotografie

Wie die bekannten Fotografen der Agentur Magnum (z. B. Werner Bischof oder René Burri) wollte auch Werner Erne fotografierend die Welt bereisen und seine Bildgeschichten an die grossen Magazine verkaufen. Obwohl er diesen Wunsch nicht realisieren konnte, reiste er zeitlebens viel und hat zur persönlichen Erinnerung diese Reisen fotografisch dokumentiert. Die Ausstellung gibt mit einer Diaprojektion Einblick in diese persönliche Reisewelten.

In den Bildern widerspiegelt sich sein Interesse für die Menschen und seine Weltoffenheit. Seinem Gegenüber begegnete er mit Neugierde, wenn auch immer mit etwas Scheu. In Gesprächen erzählte er, dass er seine Kamera nie gerne zur Schau stellte, sich lieber im Hintergrund bewegte und es ihm ausserhalb eines Auftragsverhältnisses schwerfiel, direkt auf die Menschen zuzugehen. Umso mehr zeugen die Fotografien von Respekt und sind nie zu nah am Menschen dran.

Klaus Merz’ prosaische Assoziationen

Einen ganz persönlichen Blick auf Werner Ernes Werk wirft der Schriftsteller und langjährige Freund Klaus Merz. Für die Ausstellung hat er 15 Fotografien ausgewählt und literarische Bildbetrachtungen – er nennt sie «Mutmassungen» – verfasst. Die poetischen Texte öffnen eine erweiternde und inspirierende Ebene der Bildinterpretation.

Auf der Bahn

Die unvergleichliche Stimme

des einstigen Speakers treibt

die Pferde noch immer voran.

Auf dem Hochsitz verdämmert

im staubigen Licht die Rennleitung.

Unverhofft

Der Reusen-Träger selber

wirft kaum einen Schatten,

gerät aber der Sonne ins Netz.

Sie macht den barfüssigen Mann

kurzerhand zu ihrem eigenen Fang.

Logo

Alle Lichter sind eingeschaltet,

auch der Himmel macht mit.

Doch das leuchtende Diminutiv

trägt uns beinahe aus der grossen

Kurve hinaus.