Ausstellung

Auf den Pilz gekommen

Von
Michael Hunziker

Zwei Mycele wachsen auf sich zu.

Im Kunstraum Eck in Aarau spriesst es im April und Mai: Ein inter- disziplinäres Projekt mit dem Titel «Pilz potz Blitz» zeigt Ideen, Experimente und vor allem Kunst rund um den Pilz. Wir haben uns mit Enthusiast*innen über den mystischen Akteur der Natur unterhalten.

In der Mythen- und Märchenwelt beschäftigten Pilze seit jeher das menschliche Vorstellungsvermögen – und klar, wenn im Herbst der Steinpilz ruft, bricht allgemeines Sammelfieber aus. In den letzten Jahren sind Pilze aber auch in den Fokus naturwissenschaftlicher Forschung gerückt. Ihre Geheimnisse sind bei weitem noch nicht entschlüsselt, um so mehr lässt sich über ihre Wirkungsweisen und Potentiale staunen, träumen und philosophieren. Sie könnten den Schlüssel zu einigen globalen Problemstellungen der Menschheit bereithalten: Sie zersetzen Plastik, lindern Depressionen, sind stabiler Baustoff und halten Ökosysteme im Gleichgewicht.

Der Künstler Jonas Studer hat sich von diesen facettenreichen Themen, die die Pilze wie Sporen aufwerfen, begeistern lassen. Er hat das Projekt «Pilz potz Blitz» initiiert, das weit mehr ist als ein blosses Kunsthappening: «Es soll eine Plattform werden, auf der sich Interessierte aus ganz unterschiedlichen Disziplinen vernetzen können», erzählt er. Studer hat sich in den letzten Jahren autodidaktisch viel Wissen angeeignet, sich gewissermassen auf eine Reise begeben, die ihn mit interessanten Menschen zusammegebracht hat. Dabei hat er festgestellt, dass viele, wie er, in Eigenregie forschen und experimentieren, aber untereinander wenig vernetzt sind. «Kaum ein Pilzverein hat eine Webseite.» Um der Thematik zu mehr öffentlicher Aufmerksamkeit zu verhelfen und gleichzeitig den Vorstellungsraum zu diesem biologisch schwer zu kategorisierenden Wesen zu erweitern, versucht er mit den Mitteln der Kunst einen Beitrag zu leisten, seine Faszination weiterzugeben. Dafür hat er auch unter dem gleichen Namen wie das Kunstprojekt einen Verein gegründet, der sich als kollaborative Schnittstelle für die verschiedenen Disziplinen und Interessengruppen versteht.

Selfies der Pilze

Studer hat sich zu Hause ein kleines Labor aufgebaut, in dem er mit Austernseitlingen experimentiert. Seine Pilzpopulation frisst sich derzeit durch Kodakfilmrollen. Das Faszinierende dabei ist, dass sich der Pilz selbst beibringen kann, welche Enzyme er für welches Material bilden muss, um es zu zersetzen und sich davon zu ernähren. Die angegriffenen Filmrollen belichtet Studer und macht so «den Zahn der Zeit» sichtbar – die Frassspuren des Pilzes. Die ohne Kamera entstandenen Bilder nennt Studer Myzelographien. Neben ihren ästhetischen Effekten demonstrieren die Pilze auf diesen Selbstbildnissen auch, wie anpassungsfähig sie sind. Sie vermögen es, sich die Silberchromschicht der Filme einzuverleiben, und wer das sieht, kann sich vorstellen, dass diese Pilze auch fähig sind, mit Schweröl oder Schwermetallen kontaminierte Erde zu neutralisieren – ein vielversprechender Prozess, der in Fachsprache Mycroremediation genannt wird. Zudem ist dieser biologische Vorgang auch ökologisch verträglicher und um ein Vielfaches kostengünstiger als herkömmliche Methoden, wie etwa die Durchbrennung der Böden.

Für Jonas Studer bietet der Pilz Gelegenheit, das Selbstverständnis des Menschen neu zu denken, oder es zumindest zu relativieren. «Man hat es mit einer Lebensform zu tun, die rund 360 Millionen Jahre alt ist, und so ziemlich jede evolutionäre Iteration begleitet hat. Es ist doch erstaunlich, dass sie noch so präsent und dominant ist. Eine sonderbare Intelligenz, die wohl näher mit dem Menschen verwandt ist als mit den Pflanzen.» Ein Akteur der Harmonie.

Mikro- im Makrokosmos

Zu Besuch bei Christian Greutmann in Nussbaumen bei Baden: Der Künstler hat sein Atelier über einem Verteilzentrum eines Netzanbieters. Unter unseren Füssen verlaufen abertausende Glasfasern, durch die Informationen blitzen. Ein Knotenpunkt im weltweiten Web. Greutmann arbeitet seit mehreren Jahren zu Myxomyceten, eine pilzähnliche Art, die sehr klein und unscheinbar unsere Wälder bewohnt und bewirtschaftet. Christian Greutmann extrapoliert in serieller Weise die mikroskopischen Strukturen der Mycomyceten zu grossen leuchtenden Skulpturen. «In der Kunst ist es reizvoll, in Themen einzutauchen, die noch nicht gänzlich erforscht sind. Über die Myxomyceten ist nicht sehr viel bekannt», erzählt er. Selbst er, als passionierter Pilzgänger, hat die schaumartigen Formen der Myxomyceten anfänglich als Spielart eines Pilzes angesehen. Als er sich aber einmal ein Exemplar genauer anschaute und es zu bestimmen versuchte, stellte er fest, dass die Art in der Pilzliteratur kaum festgehalten ist. Seit da sind die verschie denen Varianten der Spezies, die taxonomisch nicht wirklich zu den Pilzen gehören, da sie in einem gewissen Stadium ihrer Existenz zu einer Zelle werden, für ihn zu einem zentralen Motiv geworden. Mit ihren metallisiert schimmernden Fruchtkörpern sehen sie aus, wie die Oberfläche eines exotischen Planeten.

Im Atelier leuchten Greutmanns Modelle aus allen Ecken. «Durch die Vergrösserung ihrer Strukturen möchte ich das Bewusstsein wecken für die Welt, die uns umgibt und über die wir so schnell hinwegsehen.» Greutmann erzählt begeistert vom intelligenten Vermögen der Myxomyceten. Wie schnell sie Nahrungsquellen finden können und wie flüchtig ihre sichtbaren Erscheinungsformen sind – wenn sie nicht zu sehen sind, heisst das aber nicht, dass sie nicht existieren – es ist wie bei den Pilzen. Japanische Forscher hätten ihre Fresstrategien untersucht und festgestellt, dass sie immer den direktesten Weg suchen und finden. In den Versuchen erzeugten sie Netze, die mit den Strukturen von städtischen U-Bahn-Systemen vergleichbar waren. In einer Arbeit, die Christian Greutmann auch im Eck zeigen wird, hat er im Internet weltweit nach Selbstbildnissen von Menschen mit Pilzen gesucht und eine ganze Fülle von Selfies zusammengetragen. Stolze Pilzsammler*innen mit ganz unterschiedlichen kulturellen Hintergründen präsentieren ihre Riesenbovisten, Steinpilze und Co. ihren Peers auf Social Media. Ist es nicht sonderbar, dass diese Motive ein weltumfassendes Phänomen sind? Wie kann es sein, das auf allen Erdteilen ähnliche Pilze anzutreffen sind? Christian Greutmann hat darauf drei Erklärungen: «Es gab Pilze bereits vor der Kontinentaldrift, folglich sind sie mitgereist, zudem werden ihre Sporen über den Jetstream verteilt und Zugvögel und andere Lebewesen sorgen ebenfalls für ihre Ausbreitung.» Pilze als globale Wanderer.

«Es ist ein Versuch, die biopolitischen Landschaften von minderwertigen und überlegenen Körpern aufzuheben»

Ishita Chakraborty

Garten der Vielfalt

Das Thema der globalen Zusammenhänge greift auch Ishita Chakraborty auf. Was der Pilz auf organischer Ebene macht, sich vernetzen, sich mit der Umwelt symbiotisch organisieren, überführt die indisch-schweizerische Künstlerin in ein partizipatives, aktivistisches Ritual: In einer meditativen «Mushroom-Forming-Session» wird Chakraborty mit den Teilnehmer*innen in ein kollektives Erlebnis eintauchen. Angelehnt an eine alte Terrakotta-Tradition der Indus-Tal-Zivilisation töpfern die Teilnehmenden selbst Pilze und diskutieren in Gruppen über künftige Formen des Zusammenlebens, über Ernährungssouveränität und über – Pilze. Am Schluss wird das Eck durch die entstandenen Keramikpilze zu einem Garten der Vielfalt. Chakrabortys Ansatz ist ein Versuch, «die von der Wissenschaft geschaffenen biopolitischen Landschaften von minderwertigen und überlegenen Körpern aufzuheben und diesen dualistischen Auffassungen ein aus der indischen Mythologie inspiriertes, ökofeministisches Bewusstsein entgegen zu halten.» Was macht etwas heimisch oder fremd? Gerade mit Pilzen liesse sich die untrennbare Beziehung zwischen Mensch und Natur neu formulieren und nachvollziehen und dabei unser Verständnis von ethnischer, ökologischer Vielfalt erweitern. «In ähnlicher Weise, wie Pilze verschiedene Organismen miteinander in Beziehung setzen, bewegen sich Migrant*innen über die ganze Welt und verweben Multikulturalität – sie tauschen Ideen zu einer neuen Gesellschaft aus.»

Menschen zusammenbringen, gemeinsam denken, aushandeln, Polaritäten überwinden, das findet bei Chakraborty, um bei der Analogie der Pilze zu bleiben, gewissermassen an der Graswurzel statt, im Mikrokosmos, nahe am Individuum und seiner Lebenswelt. Im Projekt, das sich an ihre laufende Arbeit mit dem Titel Europa angliedert, sollen Austausch und echte Beziehungen über das Kunstwerk hinaus zwischen den Teilnehmenden entstehen. Bewusstseinserweiternd.

Von Dystopie und Utopie

Weg von einer dualistischen, mechanistischen Weltauffassung, in der der Mensch als Dominator über allen Spezies thront, hin zu einem organischen, egalitäreren Verständnis: Das ist ein Gedanke, den alle am Projekt Beteiligten auf je ihre Weise teilen. Es ist noch nicht lange her, da waren Pilze aus kulturhistorischer Sicht mit Gift und Verderben assoziiert, mit Ekel und Angst. Weisse Speisepilze, wie der Wiesenchampignon, hätten sich bei uns noch bis vor kurzem besser verkauft als etwa braune Shitake, weiss Jonas Studer. Doch langsam brechen diese Wertungen auf, und «der» Pilz erfährt eine Rehabilitation. Das ist auch Studers Ziel. Er möchte Berührungsängste abbauen, «aktiv über eine ästhetische Erfahrung das Staunen und die Neugier wecken, und so seine Faszination in die Gesellschaft hineinstreuen.» Unlängst ist auch die Popkultur auf den Pilz gekommen: In der Serie «The Last of Us» werden Menschen von einem Pilz zu Zombies gemacht und von ihm gesteuert. Das kommt nicht von ungefähr, die Dystopie hat ihre Vorlage in der Natur. Über Jahrmillionen hat sich der Pilz Ophiocordyceps unilateralis beigebracht, wie er Ameisen befallen kann, um seine Sporen von ihnen verteilen zu lassen und der Ophiocordyceps sinensis befällt in ähnlicher Weise Raupen. In der Traditionellen Chinesischen Medizin hat dieser Pilz Verwendung gefunden, was ihn zu einem der teuersten Heilmittel schlechthin macht. «Schreck und Faszination liegen manchmal nahe beieinander», sagt Jonas Studer. Die dystopischen Vorstellungen relativiert er aber. Pilze haben ein ökonomisches Kalkül in ihren Beziehungen zu anderen Organismen. Sie fänden eine Art Balance und würden nicht im Exzess ihre Ressourcen und eigenen Lebensgrundlagen zerstören. Dann fügt er lachend an: «Aber ich stelle mir manchmal im Labor schon auch die Frage, wer züchtet hier wen.»

PILZ POTZ BLITZ

Pilz potz Blitz ist ein innovatives Kunstprojekt, das die Welt der Fungi ins Zentrum stellt und im Offspace Eck in Aarau stattfindet. Es richtet sich an alle, die sich für die Welt der Pilze und die Mykologie interessieren. Es soll eine Plattform für ästhetische Forschungen und künstlerische Rechercheansätzen bieten, neue Zugänge schaffen und Menschen zusammenführen. Mit Positionen von Ishita Chakraborty, Silja Dietiker und Christoph Brünggel, dem Künstler:innen-Kollektiv Other Than Human Entity, Christian Greutmann, Pearlie Frisch, Patrik Mürner, Jonas Studer. mh

AARAU Kunst im Eck, Sa, 15.April (Vernissage), ab 16 Uhr. Bis 27. Mai

Christian Greutmann

Ishita Chakraborty

Universeller Stolz: Pilzler*innen und ihre Schätze. Christian Greutmann hat sie zusammengetragen.

Austernseitling und Tibetisches Kloster