Tagebuch

Archiv aus Fleisch und Beton

Von
Levin Stettler Brogli

«Ancient Fears».

Tagebuch aus London von Levin Stettler Brogli

Ich wünschte, es gäbe einen Weg, die Oberfläche aufzubrechen – gewaltsam. Nicht meine Oberfläche, sondern die aller Dinge. Ich wünschte, ich hätte die Erde aufreissen können, so wie ich meine Haut aufriss. Ich hasste es, dass mein Körper heilte, obwohl ich noch nicht bereit dafür war. Ich hasste es, dass die Ordnung der Dinge nicht anhielt, trotz all meiner Bemühungen. Habe ich dir nicht gesagt, dass die Muster auf meiner Haut nicht dort enden? Es sind Adern in meinem Fleisch und Adern im Boden. Es ist Fleisch an meinen Knochen und Fleisch in diesen fettigen Boxen auf Beton auf viktorianischem Ziegel auf römischem Ziegel – alles in ewigem Verfall. Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich begann, Tinte unter meine Haut zu bringen. Um meinen Körper auszutricksen, damit etwas bleibt, wenn er sich wieder schliesst. Die ersten Male habe ich nur an der Oberfläche gekratzt. Es fühlt sich falsch an, so tief zu gehen. Meine Haut ist ein Palimpsest, genau wie die gelbe Wand an der Unterführung in der Nähe meines Hauses, deren Wandbild in geschwungener Schrift „believe in yourself“ sagt. Das „self“ endet neben einer gespiegelten Halbkugel, als könnte ich hineinschauen und das für mich selbst manifestieren. Die Formen, die unter dem gelben Lack hervorschimmern, deuten darauf hin, dass dort früher etwas anderes stand, vielleicht etwas Tiefgründigeres. Mein Körper ist ein Archiv von allem, was ich zurückgelassen habe. Mein linker Arm trägt dreizehn alte Narben, überdeckt vom Wort „learning“ in schwarzen Buchstaben, die ins Bläuliche verblasst sind. Auf meiner linken Wange windet sich der Ouroboros um eine altägyptische Inschriftt: „All is one“. Ich bin ein Sammler von Dingen – und Menschen. Ein Behälter. Jedes Mal, wenn mich jemand verlässt, hinterlässt er einen Teil von sich in mir. Ich stehe an einem Abgrund. Hühnerknochen und Menschenknochen, alle an die Ufer der Themse gespült, alle oxidiert und geschwärzt, fast versteinert – alle gleich. Alle in meiner weissen Plastiktüte, auf der in Rot „Have a nice day :)“ steht. Ich muss alles mitnehmen, was ich kriegen kann.

Levin Stettler Brogli.

Levin Stettler Brogli (*2000, Rheinfelden) arbeitet sechs Monate im Atelier des Aargauer Kuratoriums in London.