Tagebuch

Anziehungskraft und verborgene Muster

Von
Hannah Parr

Tagebuch aus Nairs von Hannah Parr

In den ersten Monaten bei Nairs in Scuol hatte ich das Glück, den Übergang vom tiefen Winter zu den ersten Anzeichen des Frühlings mitzuerleben. Es ist das erste Mal, dass ich in dieser Gegend der Schweiz wohne, und die Landschaft hat mich sehr beeindruckt – die scharfe Dramatik der Berge, die gleichmässige Strömung des Flusses und wie das Haus in all dem eingebettet ist. Die Architektur des Hauses selbst hat mich inspiriert, vor allem die Tatsache, dass das Wasser eine zentrale Rolle in der Struktur und im Geist des Hauses spielt – man spürt diese Lebenskraft, die sich durch den Raum und um ihn herum bewegt, auf eine sehr positive Weise. Es gibt hier ein starkes Gefühl der Hingabe, eine Anziehungskraft auf die natürliche Welt und ihre Rhythmen, was damit übereinstimmt, wie ich die Welt sehe – nicht als etwas Feststehendes, sondern als ein empfindungsfähiges System, das sich im Fluss befindet, ein Prozess, der durch Interaktion und Kontingenz immer wieder neu entsteht.

Die Residenz begann, während ich die Vorbereitungen für meine Einzelausstellung im «SEXAUER» in Berlin finalisierte. Nach einer solch konzentrierten Anstrengung war es wichtig, sich Zeit zu nehmen, um zu entspannen und zu reflektieren. Diese letzten Abschnitte im Atelier sind einsam und intensiv. Bei Nairs konnte ich diese Intensität lockern, Schichten abtragen und mich neu ausrichten. Dies steht im Zusammenhang mit einer laufenden Arbeit mit Kunsthaar, bei der es um Gesten des Bürstens, der Heilung und der Erneuerung geht. In Scuol fand ich eine Schafschere und eine Wollbürste – Werkzeuge, die sich sowohl symbolisch als auch materiell mit demselben Prozess der Pflege und der Verjüngung verbunden fühlen.

Im nahe liegenden Ardez fühlte ich mich von den traditionellen Sgraffito-Malereien an den Häusern angezogen – geschichtete und eingeritzte Putzflächen, die verborgene Muster offenbaren. Sie haben etwas Architektonisches und Intimes an sich, sie sind taktil und auf eine Weise abgenutzt, die nachhallt. Ich habe damit begonnen, mit einem Winkelschleifer und einem Dremel zu experimentieren, um meine eigenen Spuren zu hinterlassen.

ZUR PERSON

Hannah Parr (*1984) reflektiert und hinterfragt mit den Mitteln der bildenden Kunst erlebte Widersprüche weiblicher Erfahrung. Sie lebt und arbeitet in Zürich.