Tagebuch aus Berlin von Nadia Hauri
Meine Reise nach Berlin beginnt in einem Monat, der mit einem lauten Knall zelebriert wird. Doch der Januar zeigt sich auch in tiefen Grautönen und mit wenig Licht. Der zentrale Fokus meiner künstlerischen Arbeit liegt im Interesse an Materialien und ihren emotionalen Aufladungen. Ausserhalb meines Schaffens im Atelier pflege ich das Spazierengehen. Ich zelebriere die Routine meiner Spaziergänge und das Abweichen von einer Route, um auf Zufälle und Überraschungen zu stossen. In einer Grossstadt wie Berlin finde ich nicht nur geschichtsträchtige Denkmäler und Bauten, sondern auch eine Vielfalt an Skulpturen im öffentlichen Raum. Auf dem Weg zu meinem jeweiligen Tagesziel begegne ich einer Masse an Menschen und durchquere verschiedene Kieze, wobei jeder Ort sich in seiner Eigenheit präsentiert. Nicht alle Wege empfinde ich als spannend und inspirierend, sodass sich gelegentlich Langeweile zeigt. Wenn ich darüber nachdenke, empfinde ich Langeweile als ein Geschenk. Sie erlaubt es mir, alltägliche Dinge wie Fenster, Fassaden, Stützen, Kräne, Gitter, sogar Licht und Schatten zu bemerken. Zuhause archiviere ich alle meine Beobachtungen in Skizzen, Fotos und Modellen. Die Zeit und finanzielle Absicherung für die 6 Monate, die ich hier in Berlin verbringen kann, erlauben es mir, Erfahrungen ausserhalb der Schweiz zu sammeln und mich als Künstlerin weiterzuentwickeln. Ich bin bereits der fantastischen Skulptur von Richard Serra, «Berlin Function», und der Arbeit von Keith Haring, «The Boxers», im mit Schnee bedeckten Park der Philharmonie Berlin begegnet. In einem ehemaligen Warenhaus am Kanzler Eck zeigte die LAS Art Foundation den Künstler Lawrence Lek, begleitet von der talentierten Musikerin Kloxii Li, die Klänge mittels einer elektronischen Flöte erzeugt. Auf dem Nachhauseweg durchquerte ich in der Nacht eine vierspurige Strasse. Auf einer Insel dieser stark befahrenen Strasse zeigte sich die metallische Skulptur von Brigitte Matschinsky-Denninghoff und Martin Matschinsky namens «Begegnung». Wem oder was ich in diesem halben Jahr noch begegnen werde oder welche Inspirationen sich mir noch auf meinen Spaziergängen eröffnen werden, kann ich nicht voraussagen. Aber die Chance dazu ist mir sicher, und ich werde sie auf meiner weiteren Reise mitnehmen, dank dem Aargauer Kuratorium und seinem Förderprogramm.
Nadia Hauri
zvg
ZUR PERSON
In ihrer skulpturalen Praxis erforscht Nadia Hauri (*1989 Aarau, lebt und arbeitet in Zürich) auf quasi-alchemistische Weise die psycho logischen und physischen Erfahrungen des menschlichen Körpers durch Materialität und Komposition. Konzipiert in Bezug auf ihre eigene Körpergrösse und aus harten und weichen Materialien wie Stahl, Edelsteinen, Latex oder Seidengarn, unterlaufen Hauris Werke oft stereotype Verbindungen von Männlichkeit. Sie beschäftigt sich mit Themen wie Träumen, das Erleben von Traumata oder Prozesse der Heilung. www.nadiahauri.com
Skizze zu Keith Harings «The Boxers»: Nadia Hauri